Kapitel 10.1

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Der Morgen kam viel, viel zu schnell nach einer unruhigen Nacht.

Ich quälte mich aus dem Bett und setzte mich mit dem Rücken an einen Bettpfosten gelehnt auf den Boden. Der vergangene Abend war noch immer nicht in meinem Kopf angekommen.

Dieser Kuss ... Und was Amaliel danach gesagt hatte. Es war zu viel.

Er ging heute gar nicht? Was hatte das zu bedeuten? Ich verstand ihn nicht, aber hatte ich das je?

Aber all das trat wieder in den Hintergrund, denn ich konnte nur an unseren Kuss denken. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte. Ich hatte innerlich die ganze Zeit einen Kuss erhofft, das war mir erst danach wirklich klar geworden. Aber als es so weit gewesen war ...

Es hatte sich einfach falsch angefühlt, der Moment war nicht richtig gewesen. Mein Gefühl sagte mir, dass Amaliel es auch gespürt hatte.

Aber er war doch hetero, oder? Er hätte mir doch davon erzählt, wenn es anders wäre, sogar von Lilith hatte er mir irgendwann erzählt. Und das war definitiv schlimmer, als nur queer zu sein.

Aber andererseits ... Was er gestern nach dem Kuss noch gebeichtet hatte, war mir auch neu gewesen.

Und was, wenn ich einfach ein Experiment gewesen war? Er wusste, dass ich schwul war, vielleicht fühlte es sich so besser an. Vielleicht wollte er einfach mal einen Jungen küssen, ausprobieren, wie es war. Und ich hatte mich da angeboten.

Ich wollte den Gedanken nicht wahrhaben, ich kannte Amaliel doch, er würde so etwas nie machen. Und doch fraß er sich wie Gift in meinen Kopf und setzte sich fest. Ein Experiment, mehr nicht. Ganz ohne Gefühle.

Ich blinzelte, bevor mir wieder Tränen in die Augen schießen konnten. Das war dumm, so unendlich dumm.

Ich musste dringend mit Amaliel reden, musste wieder in seine Nähe, damit er mir zeigte, dass er anders war, als meine Gedanken in darstellen wollten.

Wir öffneten im gleichen Moment die Tür zu unseren Zimmern, ich warf ihm einen überraschten Blick zu, bevor mein Fluchtinstinkt einsetzte und ich die Treppe hinunterhastete. Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, ihn so schnell zu treffen.

Amaliels traurige Augen folgten mir den Weg nach unten und brannten mir ein Loch in mein Herz.

Beim bloßen Gedanken an Essen drehte sich mir der Magen um, weswegen ich mich mit einem Tee auf die Couch kauerte und aus dem Fenster schaute. Die Welt draußen war genauso trist und grau wie meine Stimmung. Grauer Nebel verhing meinen Kopf, das Denken fiel mir schwer.

Amaliels Schritte auf der Treppe ertönten und mein Körper verkrampfte sich. Es war so weit.

»Guten Morgen«, sagte er rau, als er sich mit gehörigem Sicherheitsabstand neben mich setzte.

Er sah aus, wie ich mich fühlte. Ungeordnete Haare, die darauf hinwiesen, dass er sich die ganze Nacht in seinem Bett hin und her bewegt hatte, und tiefe Augenringe, die von seinem Schlafmangel zeugten.

Ich wusste, dass er geweint hatte. Ich hatte es nicht gehört, aber etwas an dem leeren Ausdruck in seinem Gesicht sagte mir, dass ihn der Verlauf des letzten Abends wirklich mitgenommen hatte. Hatte ich ihn verletzt, als ich vor ihm zurückgewichen war?

Er wollte sich jetzt sicherlich entschuldigen, der Kuss war ein unüberlegtes Experiment gewesen. Ein Experiment, wie es war, einen Jungen zu küssen.

Er hatte geweint, weil er ahnte, dass es mich verletzen würde. Ich wusste, dass er das nicht wollte.

»Morgen«, antwortete ich nach mehreren Sekunden, die Stimme schwach. »Wir wollten reden.«

Die Worte hingen zäh zwischen uns, niemand wollte den ersten Satz sagen, den Keil weiter zwischen uns treiben. Schließlich durchbrach Amaliel die Stille, die sich schwer auf meine Kehle gelegt hatte.

Wie zwei Geister im UniversumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt