Kapitel 16

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NORAH

„Was hast du dir dabei gedacht?", fahre ich Diego an, nachdem ich ihn ins Bad gezogen habe. Dort suche ich einen Erste Hilfe Kasten heraus.
Er lehnt sich an eine Wand und verschränkt seine muskulösen Arme vor der Brust.
„Es ist doch nichts passiert. Warum regst du dich so auf?", meint er.
„Diego, weil das verdammt leichtsinnig von dir war!"
„Ich weiß. Aber was hätte ich machen sollen? Ich wollte die beiden nicht alleine lassen. Schließlich habe ich gesagt, dass ich auf sie aufpasse. Und das habe ich gemacht."
Ich schaue ihn an. Seine braunen Augen funkeln mich warm an. Im Gegensatz zu seiner aufgeplatzten Lippe und dem blau-grünen Bluterguss an seiner Schläfe.

„Du bist ein Vollidiot.", sage ich leise und öffne den Erste Hilfe Kasten.
Er schmunzelt.
„Setz dich hin.", fordere ich ihn auf.
„Wieso?", fragt er.
„Weil ich das gesagt habe."
Er verdreht die Augen und setzt sich auf den Rand der Badewanne.
Ich stelle mich zwischen seine Beine, greife nach seinem, vom drei-Tage-Bart stoppeligem, Gesicht und tupfe seine Lippe vorsichtig mit einem Tuch ab. Er zieht scharf die Luft ein.

„Tut weh, hm? Selber Schuld.", sage ich und desinfiziere die Wunde.
„Du bist der Teufel, Norah Ramirez.", knurrt er.
„Ich weiß. Und ich bin es gerne.", sage ich grinsend, während ich ihm ein Kühlpack gegen den Bluterguss halte.
„Du hättest mich anrufen sollen. Dann hätte ich die beiden irgendwie anders untergebracht.", kehre ich zum eigentlichen Thema zurück.
„Wie hätte ich das machen sollen? Ich habe deine Nummer nicht.", meint er schulterzuckend.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
„Du hättest einfach in meiner Akte nachschauen können."
„Das sollte man aber nicht tun.", entgegnet er.
„Sonst ist dir doch auch immer egal, was man tun sollte und was nicht, oder?"
„Ach komm, halt die Klappe. Immerhin haben die beiden jetzt etwas zu erzählen."
„Ja, nämlich dass Martha auf deinem Schoß das Polizeiauto gefahren ist und Miro den Dieb geschnappt hat. Und dann haben sie auch noch dabei zugeschaut, wie du aufs Maul bekommen hast. Ganz große Klasse.", fasse ich zusammen.

„Wenn du das so sagst, dann hört es sich ziemlich dramatisch an.", meint er und kratzt sich am Hinterkopf.
„Ja, allerdings. Weil es das ist.", gebe ich zurück.
„Du machst aus einer Mücke einen Elefanten, Norah. Klar, ich habe falsch gehandelt, aber es ist doch wirklich alles gut gegangen. Die Kinder hatten Spaß, das ist doch die Hauptsache."
„Es hat sowieso keinen Sinn, mit dir zu diskutieren.", sage ich und trete von ihm weg.

„Bist du jetzt sauer auf mich?", fragt er.
„Nein. Ich kann nur nicht verstehen, dass ein erwachsener Mann so unverantwortlich Handeln kann. Wenn das deine Kinder gewesen wären, dann hättest du das sicherlich nicht gemacht."
„Doch. Das hätte ich."
„Wieso?", frage ich verwirrt.
„Weil meine Kinder sehen sollten, was ich für einen Job habe. Sie sollten wissen, mit was für einer Passion man seinen Job machen kann. Machen sollte. Sie sollen wissen, dass nicht alles, was gefährlich ist, von Grund auf schlecht ist. Man kann sie nicht vor allem Schlechten beschützen oder verstecken. Sie sollen die Welt mit ihren eigenen Augen entdecken und nicht das sehen, was wir sie glauben lassen zu sehen."

Ich starre ihn an. Er steht auf.
„Ich weiß, ich habe falsch gehandelt. Aber ich habe dir versprochen, auf die beiden aufzupassen. Und das habe ich gehalten. Und ich würde es immer wieder so machen.", meint er und verschwindet dann aus der Tür.

Wow.

Ein Mann, der sein Wort hält. Gleichzeitig ein Mann, der verdammt leichtsinnig handelt.

Ich atme tief durch und trete dann zurück zu den anderen. Diego unterhält sich gerade mit einem anderen Kollegen. Mein Vater spricht mit Martha und Miro. Ich hoffe, dass sie vor ihm dichthalten. Mein Vater wäre nicht erfreut, wenn er wüsste, was Diego mit seinen Enkeln gemacht hat.

Im Vorbeigehen drücke ich Diego einen kleinen Zettel in die Hand. Meine Handynummer. Natürlich nur für den Fall.

„Okay ihr beiden, wollen wir zurück zu eurem Papa fahren?", frage ich meine Nichte und meinen Neffen. Beide nicken. Ich nehme beide an den Händen und verabschiede mich von meinem Vater.
„Tschüss Diego!", rufen beide gleichzeitig und winken ihm zu. Er winkt zurück und strahlt dabei wie ein kleines Kind.

Diese Grübchen. Dieses Lächeln.

„Nori?", fragt Martha, als wir das Gebäude verlassen.
„Was denn?"
„Können wir öfter zu Diego? Er ist so cool. Und ich glaube, ich habe mich ein bisschen in ihn verliebt.", spuckt meine kleine Nichte aus.
Ich unterdrücke ein Lachen, kann jedoch ein kleines Prusten nicht vermeiden.
„Warum lachst du?", fragt sie verwirrt.
„Du hast dich in ihn verliebt?", frage ich sie.

Sie hat ihren ersten Kindheitscrush. Süß.

Sie nickt. „Er war so lieb zu mir. Er hat immer auf mich aufgepasst. Und hat mich festgehalten. Außer, als er sein Bein bewegt hat und am Stab vom Auto rumgedrückt hat. Aber das hat er immer schnell gemacht und mich danach wieder festgehalten.", erzählt sie.

Der Stab vom Auto? Wahrscheinlich meinte sie den Schaltknüppel.

„Also können wir öfter zu Diego?", fragt nun Miro.
„Wollt ihr nicht erstmal euren Papa sehen?", frage ich und versuche vom Thema abzulenken.
„Den sehen wir doch sowieso jeden Tag.", meint Martha gelangweilt.

Ich gebe auf.

„Gut. Wir schauen, was wir tun können. Aber ihr müsst das sowieso alles mit eurem Vater absprechen. Und Diego ist auch kein Babysitter. Das heute war eigentlich eine Ausnahme.", sage ich und setze die Kinder in das Auto.
„Wenn du jetzt Diego wärst, dann-", ich unterbrecht Miro.
„Ich bin aber verdammt nochmal nicht Diego, okay?", sage ich, vielleicht ein bisschen lauter als beabsichtigt.

Mich macht es sauer.
Dieser Kerl kann jeden, wirklich jeden Menschen, im Umkreis von der gesamten Weltkugel innerhalb von Sekunden um den Finger wickeln. Und er muss sich nicht einmal anstrengen.

„Entschuldigung, ich wollte nicht laut werden. Wir fahren jetzt zurück zu eurem Vater.", sage ich und starte den Motor.
„Aber Norah, du bist doch jetzt nicht sauer, oder?", fragt Martha.
„Nein, ich bin nicht sauer. Nicht auf euch.", gebe ich zurück.
„Aber auf Diego?", hakt sie nach.
„Nein. Doch. Nur ein bisschen."
„Aber wieso denn? Magst du ihn nicht?", fragt nun Miro.
„Doch. Ich mag ihn bestimmt. Aber manchmal tun Menschen Dinge, die nicht so schlau waren. Und davon hat Diego heute jede Menge gemacht.", erkläre ich.
„Aber er hat auf uns aufgepasst.", meint Miro jetzt. „Und das sollte er doch, oder nicht?"

Ich nicke. Ja, genau das sollte er. Und das hat er -wenn auch anders als erhofft- getan.

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