Jürgen wacht auf. Es scheint schon längst hell geworden zu sein. Normalerweise wecken seine Eltern ihn doch zu so einer Zeit. Dann schaut er sich um. Er erkennt keines der Möbelstücke in seinem Zimmer. Auch seinen Schreibtisch, wo er ab und zu in sein Tagebuch schreibt, kann er nicht finden. Dann fällt ihm alles wieder ein. Der ganze Stress am Morgen. Wie er das Haus ohne Schuhe verlassen musste. Er schaut an sich herunter auf seine Füße. Die Haut an seiner Fußsohle ist an mehreren Stellen aufgeplatzt. Seine Füße sind voll vom getrockneten Blut. Erst jetzt spürt er wieder etwas. Das Adrenalin hatte seinen Schmerz nicht ans Gehirn vordringen lassen. Nachdem er seine Füße begutachtet hatte, betrachtet er die nächste Schmerzstelle. Seine rechte Schulter tut stark weh. Auch dort ist Blut zu sehen. Dort ist ein langer roter Streifen, der von seinem Hemd kommen musste, wo sein Vater mit seinem ganzen Gewicht drauf lag. Dann der Schock. Jürgen hatte bis jetzt nur auf seine Schmerzen geachtet. Erst jetzt denkt er an seinen Vater. Ihm rasen viele Gedanken durch den Kopf. „Ist er tot?", murmelt er, ohne die Erwartung zu haben, eine Antwort zu bekommen. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, springt er vom Bett auf. Sofort reißt er die Tür auf. Er sprintet den kurzen Flur entlang direkt in das Zimmer, wo noch immer seine Mutter, sein Vater und auch der Arzt sind. Keuchend fragt Jürgen: „Wie geht's ihm?" Wie geht es meinem Vater? Seine Mutter und der Arzt schauen ihn nur verdattert an. Sie haben wohl nicht damit gerechnet, dass Jürgen so schnell schon wieder auftaucht. Aber es ist jemand anderes, der antwortet. „Mir geht es gut, Junge. Hör auf, dir Sorgen um mich zu machen. Besser hätte man nicht reagieren können. Ich weiß nicht, wie ich dir zeigen kann, wie stolz ich auf dich bin." Jürgen schaut erleichtert. Sein Gesicht entspannt sich ein bisschen und man sieht, wie seine Mundwinkel wieder in die Ursprungsform zurückkehren. Dann meldet sich der Arzt zu Wort: „Ich denke, du verdienst viel Anerkennung. Dein Vater muss sich nur noch ein bisschen ausruhen, dann wird er schnell wieder fit. Aber komm bitte mal kurz her, damit ich mir deine Schulter kurz anschauen kann." Dankbar schaut Jürgen den Arzt an. Er zieht sein T-Shirt aus und dreht sich um, damit die Schulter direkt zu seinem Helfer zeigt. Dann schaut er an sich herunter. Sieht, wie sich seine Brust hebt und senkt, sieht, wie seine Bauchmuskeln im Schatten des Raums lustig zu tanzen scheinen. „Ich bin gleich wieder da", sagt der Arzt. Kurze Zeit später kommt er wieder. In seiner linken Hand hält er ein Tuch, aus dem Wasser zu tropfen scheint. Ohne Vorwarnung legt er es auf die schmerzende Schulter. Jürgen unterdrückt einen Schrei. Ein stechender Schmerz schießt durch die Schulter. „Das ist Alkohol. Es ist wichtig, dass du das Tuch erstmal weiter an deine Schulter hältst, damit deine Schulter schneller wieder heilen kann", kommt die erklärende Antwort auf den Schmerz. Jürgen übernimmt das Halten des alkoholgetränkten Tuches. Er schaut seiner Mutter tief in die Augen. In Ihrem Gesicht ist viel zu lesen. Darunter ist Stolz auf die Tapferkeit und den Fleiß ihres Sohnes, der seinem Vater möglicherweise das Leben gerettet hat.
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Jürgen Ohlsen - Mythen über Mythen aber keine Antworten
AventureZunächst will einmal gesagt sein, dass diese Geschichte weder die Taten der Nationalsozialisten im Dritten Reich verherrlichen oder verharmlosen, noch die vielen Toten entwürdigend darstellen soll. Jürgen Ohlsen wurde am 15. März 1917 in Berlin gebo...