(Kapitel 3)

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„Hallo Jürgen, du bist spät dran." Jürgen schaut seinem Singlehrer tief in die Augen. Normalerweise verstanden sich die beiden relativ gut, aber er war immer noch ein bisschen sauer wegen seiner Eltern. Er hätte ihm eigentlich gerne einige Beleidigungen an den Kopf geworfen, aber er schafft es sich zurückzuhalten. Also sagt er nur: „Es tut mir wirklich leid Herr Müller, aber ich wurde aufgehalten. Außerdem bin ich ja jetzt da." „Ich will es dir verzeihen, aber ich erwarte wie immer eine Glanzleistung von dir", kommt die Antwort. Jürgen nickt ihm dankend zu. „Denk dran dich umzuziehen Jürgen und diesmal bitte mit Krawatte. Das Publikum will einen glänzenden Jungen sehen, der höflich, hilfsbereit und gebildet wirkt. Du musst all deine Probleme vergessen und dich voll auf diesen Auftritt konzentrieren." „Ja Herr Müller, ich werde alles Erdenkliche tun, um nicht nur Sie, sondern das ganze Publikum zu begeistern." Noch ein letztes Lächeln bekommt er geschenkt, bevor er Zeit zum Umziehen hat. Jürgen atmet tief ein und aus. Ein und aus. Er schließt seine Augen und denkt über die HJ nach, über seine Eltern und dem vorherigen Gespräch. Er muss seine ganze Aufmerksamkeit dem Auftritt widmen. Jürgen läuft zum Spiegel und betrachtet sich eine Weile. Er kämmt sich nochmal die eigentlich schon gut sitzenden blonden Haare. Dann geht er zu der Box, in der seine Kleidung für den Auftritt liegt. Dann zieht er langsam ein Kleidungsstück nach dem anderen aus der Kiste. Von draußen klopft es an die Tür: „Jürgen, du musst dich beeilen." Schnell streift er sich die Ausrüstung über seine Alltagskleidung. Normalerweise zieht er diese vorher aus, aber dafür ist einfach keine Zeit mehr. „Sonst hackt der Spinner mir noch den Kopf ab", murmelt er leise. Dann tritt er aus der Kabine. Herr Müller klopft ihm noch einmal auf die Schulter. Jürgen hat das Gefühl, dass dieser angespannter ist als er selbst. Eigentlich ist Jürgen nicht besonders aufgeregt. Schon oft trat er vor solch einer großen Menge auf. Trotzdem atmete er tief durch. Er spürt wie die Luft immer wieder den Weg durch seine Nasenhöhlen findet. Dann betritt er die Bühne. Der Vorhang ist noch geschlossen. Er hört das Getuschel der Menge. Er weiß, dass die Zuschauer ihn noch nicht sehen, aber trotzdem stellt er sich aufrecht hin und geht nochmal den ganzen Ablauf durch. Er schaut sich diesen roten edlen Vorhang an. Er weiß, dass sich dieser gleich öffnen wird. Die Zuschauer werden anfangen zu klatschen. Dann diese kurze Phase des Quietschens, in der das Mikrofon verrückt zu spielen scheint. Dann wandern seine Gedanken zum Schluss der Vorstellung. Einige wenige Zuschauer kommen nach vorne und drücken ihm etwas Geld in die Hand. Und später dieses Triumpfgefühl zu sehen, wie das bisschen Geld, welches er hat, mehr wird. Immer mehr, bis er sein Ziel erreicht hat.

Jürgen Ohlsen - Mythen über Mythen aber keine AntwortenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt