35. Kapitel

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Es war bereits mehr als zwei Monate her, dass ich Hogwarts hatte verlassen müssen, als dieser Tag kam. Dieser Tag, vor dem ich mich seit Wochen fürchtete. Der 24. Juni. Bereits Tage zuvor hatten die Albträume wieder eingesetzt. Hier im Grimmauldplatz, wo es nur wenig gab, mit dem ich mich ablenken konnte, kehrten meine Gedanken immer wieder zurück ... zu Cedric ... zu seinem Tod ... zum Tag der dritten Aufgabe. Der 24. Juni. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Was tat man an so einem Tag? Am Todestag einer geliebten Person? Nie zuvor hatte ich mir Gedanken darüber gemacht. Zwar hatte ich Lily verloren, aber meine Bindung zu ihr war nie so eng gewesen, wie zu Cedric – zumindest hatte ich keine Erinnerung daran, dafür war ich noch zu klein gewesen, als sie mich zu Ma gegeben hatte. Kurz flackerte Ärger in mir auf, aber wozu sollte ich mich jetzt noch darüber ärgern?

Schliesslich hatte ich einen Entschluss gefasst. Der Morgen des 24. Juni brach an. Möglichst lange vergrub ich mich in meinem Bett, damit ich auch ja nicht Gefahr lief, Ma, Jake oder Gawain über den Weg zu laufen – besonders nicht Gawain. Dann zog ich mich an, schlich in Schatten gehüllt die dunkle Treppe hinab und durch die düstere Eingangshalle. So leise wie irgend möglich öffnete ich die Haustür, wand mich hinaus und schob die Tür wieder ins Schloss, bevor ich disapparierte.


Die Landschaft hatte sich verändert. Die grauen Häuser um den kleinen Platz mit dem ungepflegten Flecken Rasen waren einer erfrischenden grünen Landschaft aus Hecken, Wiesen und Wäldchen gewichen. Zwischen ihnen durch wand sich ein staubiger Schotterweg, der zu meinem Ziel führte: zum Haus der Familie Diggory – oder eigentlich: zu Cedrics Grab. Ohne gross darüber Nachzudenken veränderte ich mein Aussehen, damit mich niemand erkennen würde – nach all den Einsätzen für den Orden in den letzten Wochen, gingen mir diese Verwandlungszauber problemlos von der Hand.

Unsicher folgte ich der Kiesstrasse und fragte mich bei jedem Schritt, ob das, was ich hier tat, auch wirklich klug war – immerhin hatte es seinen Grund, weshalb ich nur in Begleitung das Hauptquartier verlassen durfte. Es war zu gefährlich für mich, mich allein herumzutreiben: Die eine Hälfte der Zaubererwelt trachtete danach mich zu vernichten, weil ich ein Obscurial war und die andere Hälfte ... Meinem Vater zufolge hätte Voldemort nur zu gern ein Obscurial in seinen Reihen, das er für seine Zwecke nutzen konnte. Allerdings würde es dem Schrecken der Zaubererwelt vermutlich auch nicht allzu viel ausmachen, wenn ich mich weigerte, mich ihm anzuschliessen und er mich stattdessen töten musste. Ich wäre besser im Hauptquartier geblieben, das wäre klüger gewesen. Aber mein Herz konnte nicht, es schrie nach Cedric und ich konnte ihn an diesem Tag, seinem Todestag, nicht einfach im Stich lassen.

Das Haus der Diggorys kam nach der letzten Wegbiegung in Sicht und ich ging hinter einem Baum am Strassenrand in Deckung. Vor dem Haus parkten einige Autos und mehrere dutzend Hexen und Zauberer hatten sich versammelt. Natürlich ... mir hätte klar sein müssen, dass ich nicht die Einzige war, die auf die Idee kam, Cedrics Grab zu besuchen. Unentschlossen trat ich auf der Stelle. Was nun? Sollte ich umkehren? Nein. Wenn ich mir schon Ärger einhandelte – und den würde ich garantiert bekommen – dann sollte es sich zumindest lohnen. Mit neuer Entschlossenheit richtete ich den Zauberstab erneut gegen mich selbst und verstärkte die Zauber, die mein Aussehen veränderten. Und wenn mich jemand fragte, woher ich Cedric kannte ... ich würde einfach sagen, dass ich eine ehemalige Mitschülerin war, eine Hufflepuff, die ein Jahrgang über ihm war. Mit meinem Tarnaussehen sah ich ohnehin älter aus als mein eigentliches selbst.

Wenige Schritte später hatte ich die Trauernden erreicht, die ... oh, nein! Mr und Mrs Diggory begrüssten alle Trauergäste persönlich. Schnell überlegte ich. Ich brauchte einen Namen zu meiner Geschichte ... einen Namen ... keinen auffälligen!

Dann war die Reihe an mir und Mrs Diggory lächelte mich an, doch das Lächeln konnte ihre Trauer nicht kaschieren. «Schön, dass Sie kommen konnten. Tut mir leid, aber ich kann mich nicht mehr an Ihren Namen erinnern.»

Ungewisse Wege - Adrienne Seanorth 6Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt