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Hyvn

Ich sitze im Wohnzimmer mit AirPods in den Ohren, mein Handy in der Hand, und schaue einfach nur ins Leere. Die Leere ist genauso leer wie meine Augen, in denen seit dem Weggang meines Vaters nur noch Dunkelheit herrscht und mir ein Trauma fürs Leben verpasst wurde.

Seit meiner Rückkehr nach Hause sitze ich hier im Wohnzimmer und starre ins Leere, unfähig zu glauben, was heute alles passiert ist.

Meine Mutter und ich sind alleine zu Hause, mein kleiner Bruder ist bei seinen Freunden und Blerim steckt irgendwo. Bestimmt mit seinen Kumpels an einem Ort, an dem er eigentlich nicht sein sollte. Er kontrolliert mein Leben, kann aber selbst nicht mit seinem eigenen umgehen. Ich warte darauf, dass er nach Hause kommt, damit ich mit ihm reden kann. Ich muss unbedingt mit ihm sprechen und ihm sagen, dass er all das lassen soll. Es ist verdammt nochmal mein Leben, nicht seins. Das muss er auch irgendwann begreifen!

Warum höre ich meine Mutter nicht? Normalerweise schaut sie immer arabische Serien, die man im ganzen Haus hören kann, aber jetzt ist es seltsam still. Alles ist ruhig, ich höre nur die Musik aus meinen AirPods, ansonsten herrscht Stille, als ob keine Menschenseele hier wäre. Etwas stimmt hier nicht.

Meine Mutter kam ins Wohnzimmer, eine Flasche Alkohol in der Hand, und schaute mich ausdruckslos an. Der Geruch von Alkohol stieg mir sofort in die Nase und Angst breitete sich in mir aus. Angst vor dem, was als nächstes passieren würde. Ich nahm die AirPods aus meinen Ohren und schaltete sie aus. Ich richtete mich auf und bereitete mich auf eine Standpauke vor. Nicht das auch noch. Ich brauche doch nur für kurze Zeit Ruhe, warum wird mir das nicht gegönnt?

[Du tust nichts, warum bist du nicht wie andere Kinder?]
»Tu tiştekî nakî, tu çima nabî wekî zarokên din?« regte sie sich auf. Tief atmete ich ein und ließ es einfach über mich ergehen. Ich brauche jetzt eigentlich nicht auch noch ihre Vorwürfe. In ihren Augen lag Hass, worauf? Weiß ich selbst nicht. Oder vielleicht will ich einfach nur nicht glauben, dass es wegen etwas ist, wofür ich nichts kann. Es ist nicht meine Schuld. Warum glaubt sie mir nicht? Ihrem eigenen Kind, das sie selbst erzogen und früher so viel Liebe geschenkt hat, schreit sie jetzt nur noch an und wirft ihr Sachen vor, nur wegen ihres Ex-Mannes, der etwas getan hat, aber die Schuld auf mich geschoben hat. Ich möchte doch nur wieder ihre Mutterliebe spüren wie früher und ihr Vertrauen haben.

»Dayê, ich habe doch nichts getan, warum bist du sauer?«, fragte ich gespielt gelassen. Wenn sie merkt, dass ich eigentlich verletzt bin über das, was sie gesagt hat, wird sie noch wütender werden. Sie hat mich schon so oft mit ihren Worten verletzt. »Du bist an allem schuld!« warf sie mir vor. Ein Stich direkt ins Herz. Warum sagt sie das? Tränen wollen mir in die Augen steigen, was ich jedoch nicht zuließ. Ich darf nicht schwach sein, weder vor ihr noch vor jemand anderem. Ich bin nicht mehr so schwach wie früher, ich kann mich wehren! Ich bin jetzt alt genug.
Ich wollte eigentlich nur auf Blerim warten und dann mit ihm reden, aber jetzt muss ich plötzlich mit meiner Mutter sprechen, die mir Vorwürfe macht? Warum ist mein Leben nur so verdammt seltsam?

Man sagt, dass man ehrlicher ist, wenn man betrunken ist, aber das, was sie sagt, stimmt doch eigentlich gar nicht, oder? Vielleicht will sie das nur glauben, weil sie die Schuld auf mich schieben will und einfach nicht akzeptieren will, dass es eigentlich nicht meine Schuld war. Oder vielleicht will ich einfach nur glauben, dass es nicht meine Schuld ist. Ist es wirklich meine Schuld? Verdammt, warum ist das alles so kompliziert? Ich hasse meinen Erzeuger so sehr. Er hat unser Leben zerstört und ist einfach gegangen. Vor meinen Augen, die gleichen Augen, die er hat. Die Farbe und die Form meiner Augen habe ich von ihm geerbt, und das ist auch der Grund, warum ich meine Augen verabscheue.

Sie zeigte mit ihrem Zeigefinger auf mich, in der Hand wo ihre Flasche Alkohol ist. »Du, genau du, hast alles kaputt gemacht.« Das stimmt nicht! Ich habe nichts getan.
[Warum hast du das getan?]
»Te çima wisa Kir?«, fragte sie mit Tränen in den Augen, die gerade hochkamen. Ihr Gesichtsausdruck versetzte mir einen Stich ins Herz. Ihre Augen funkelten vor Wut, Hass und Tränen, ihre Pupillen waren geweitet wegen des Alkohols oder all des Hasses und der Wut, weiß ich auch nicht genau. Ich habe doch nichts getan! Warum glaubt sie mir nicht? Sie empfindet Wut wegen etwas, das nicht einmal stimmt!
»Dayê, bitte glaub mir doch, ich habe nichts getan«, versuchte ich ihr klar zu machen. Ich möchte nur, dass sie mir glaubt. Sie schüttelte den Kopf, da sie mir nicht glaubt. Ich habe fünf Jahre damit verbracht, ihr Vertrauen zu gewinnen, was nie geklappt hat. Einmal in meinem Leben möchte ich, dass sie mir glaubt. Das würde so vieles verändern, aber sie lässt es nicht zu. Sie möchte falsch von mir denken! Das reicht langsam. Ich stand auf, um auf sie zuzugehen und ihr alles besser zu erklären. Doch sie wich zurück und warf die Alkoholflasche mit voller Wucht in meine Richtung, knapp an meinem Gesicht vorbei. Die Flasche prallte gegen die Wand und zerbrach mit einem lauten Knall in viele Stücke. Schockiert riss ich meine Augen auf, und ein Schauer lief mir über den Rücken. Sie wollte mich verletzen. Sie wollte mich wirklich treffen. Was wäre passiert, wenn sie mich getroffen hätte? Würde es ihr überhaupt leidtun?

Intended for each otherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt