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Hyvn

Mit gesenktem Kopf und meinen Händen in den Taschen meiner Jogginghose betrete ich das Schulgelände und frage mich, warum es mir nichts ausmacht, dass Aras nun meine Angst kennt. Ich hatte Bedenken, dass er sich darüber lustig machen würde, aber er ist nicht wie Leyla. Er hat mir sogar geholfen, da kann nichts schief gehen. Doch ich kann ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich fürchte, dass er auch beginnen könnte, meine Augen als völlig leer zu betrachten oder etwas über meine Vergewaltigung zu erfahren. Das ist meine größte Angst. Ich möchte nicht, dass er mich dann anders betrachtet oder so. Und ich möchte auch nicht, dass noch mehr Menschen davon erfahren.

Ich schaue zum Platz, an dem ich normalerweise mit Roja und Irina warte, und sehe, dass beide dort stehen und Roja kreischt. Irina schaut verlegen zu Boden. Offenbar hat Irina ihr gerade etwas erzählt. Ich gehe auf die beiden zu, und sofort kommen sie auf mich zu. Gestern habe ich niemandem geantwortet und bin einfach ins Bett gegangen. Ich war einfach zu müde. Ich weiß, dass sie es mir nicht übel nehmen werden. So sind sie nicht. Roja und Irina umarmen mich nacheinander. »Alles in Ordnung?«, fragt mich Irina besorgt, was ich bejahe. Immerhin geht es mir wirklich gut. »War zu müde, um zu antworten, tut mir leid.«, entschuldige ich mich, woraufhin sie mich verständnisvoll ansehen. Sie fragen mich kurz, ob mir jemand etwas angetan hat oder so. »Du weißt nicht, was Irina gerade erzählt hat.«, sagt Roja und klatscht in die Hände. Ich hebe meine linke Augenbraue und schaue erwartungsvoll zu Irina, die wieder errötet. »Ich bin gestern zufällig Mohammed begegnet und dann sind wir zusammen spazieren gegangen«, erklärt sie mir, woraufhin ich anfange, vor Freude in die Hände zu klatschen. Nichts kann meine Stimmung bei ihnen trüben. Und dass Mohammed und Irina sich näherkommen, macht mich überaus glücklich. »Wie ist es dazu gekommen?«, frage ich außer Atem vom ganzen Klatschen, während Roja und ich sie erwartungsvoll ansehen. »Er hat mich gefragt, ob ich weiß, was mit dir los ist, und dann haben wir kurz geredet, und dann ist es passiert«, sagt sie unschuldig mit einem süßen Schulterzucken. Ich habe auch nicht mit Mohammed gesprochen. Roja und ich sehen uns kurz an und drehen dann vor Freude kreischend im Kreis. »Ich wusste doch, dass ihr füreinander bestimmt seid«, sagt Roja und fällt Irina in die Arme, schaukelt sie hin und her, was Irina amüsiert hinnimmt. Mohammed und Irina würden perfekt zusammenpassen.

»Wisst ihr, wie süß er sein kann?« schwärmt Irina, woraufhin wir sie schmutzig grinsend ansehen. Ich weiß ganz genau, wie er sein kann. Ihre Wangen müssen wahrscheinlich immer knallrot werden, wenn er seine dreckigen zweideutigen Witze macht. »Er hat mir sogar eine Gänseblümchen gepflückt, als ich mich eigentlich bücken wollte, um sie zu pflücken.« erzählt Irina mit einem strahlenden Grinsen im Gesicht. Ich freue mich so sehr für sie, dass sie jetzt jemand Besseren gefunden hat. Wir reden noch ein wenig, wobei uns Irina auch erzählt, worüber sie gesprochen haben. Das meiste sind Dinge, die sie beide mögen, was Irina immer wieder vor Freude kreischen lässt und uns alle amüsiert. Nach ein paar Minuten gehen Roja und ich dorthin, wo wir hin sollen, und verabschieden uns von Irina, die jetzt mit Mohammed Unterricht hat. Auf dem Weg zum Deutschunterricht sehe ich Mohammed und Aras, tue aber so, als ob ich sie nicht sehe, um es nicht unangenehm zu machen. Beim Vorbeigehen spüre ich zwei stechende Blicke von beiden.

Ich setze mich wie immer in allen Unterrichtsklassen ganz hinten hin und Roja setzt sich dann neben mich. Ich hole meine Sachen heraus und male Blumen auf meinem College-Block. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich dadurch allem entkommen kann. Ich bin nicht traurig oder so, sondern in mir herrscht einfach eine Leere. Es fühlt sich an, als ob in meinem Bauch ein schwarzes Loch ist, das verhindert, dass ich normal denken kann. Immer wieder kreisen meine Gedanken um die Vergewaltigung, Aras und anderen Sachen. Roja stupst mich in die Seite, woraufhin ich zu ihr schaue. »Hyvn, der Lehrer ist da, du bist sonst nie so abgelenkt«, besorgt betrachtet sie mich. »Bin nur immer noch müde, nichts weiter«, lüge ich. Wie gerne würde ich ihr beichten, dass es mit dem zu tun hat, was Ibrahim getan hat und dass Aras es fast herausgefunden hätte. Ich wollte es ihr und Irina schon immer sagen, aber ich habe einfach nicht den Mut dazu. Sie würden mich nicht verurteilen, nein, sie würden mir beistehen. Aber irgendetwas in mir weigert sich, es ihnen zu sagen und ich bleibe lieber verschlossen. Irgendwann müsste ich es ihnen jedoch sagen, aber bis dahin habe ich noch genug Zeit. Irgendetwas in mir hat Angst, dass wir uns aus irgendeinem Grund trennen würden. Das könnte ich niemals aushalten, ich kann nicht ohne die beiden. Sie sind wie zwei Schwestern für mich.

Intended for each otherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt