Kapitel 2: Einfache Alchemie Band 1

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Zahnfee POV:

Das Mittagessen ist wie immer zu schnell rum. Denn nachmittags machen die Nonnen mit uns Experimente, um unsere Magie zu erforschen. Das ist eigentlich sehr interessant, aber diese Versuche tun oft weh. Doch sie bringen was, wir können unsere Magie schon viel besser einschätzen und kontrollieren. Naja zumindest meine Brüder. Ich mache einfach keine Fortschritte. Die Nonnen haben anfangs geglaubt, ich sei einfach schwächer als meine Brüder, aber so ist das nicht. Meine Magie ist nun einmal anders, was eh normal ist. Die Kräfte von jedem von uns sind unterschiedlich, aber ich kann mit meiner einfach nicht umgehen. Ich versuche einmal zu beschreiben wie das so ist. Also Magie fühlt sich im generellen an wie ein Fluss, der ganz tief in einem steckt. Wie der Fluss ist, ist individuell. Zum Beispiel der Magiefluss von Klaus ist eigentlich ruhig und gleichmäßig, um die Weihnachtszeit herum wird er stärker und am stärksten ist er, wenn er seine Magie anwendet, mit der Intention, anderen aus der Patsche zu helfen. Sandros Fluss ist eigentlich eher ein See, in den es nachts reinregnet und am nächsten Tag ist Wasser drin, kurz gesagt: Seine Magie lädt sich in der Nacht auf, da kann er sie auch ohne Bedenken nutzen, und tagsüber kann er nur die gespeicherte Magie verwenden. Wenn sie ausgeht (was eigentlich nicht oft passiert, weil der Speicher echt groß ist) kann er sie erst wieder verwenden, wenn es dunkel ist. Anfangs ist er auch nicht damit klargekommen, aber jetzt kann er schon perfekt damit umgehen! Selbst Kai, dessen Magiefluss so stark ist, dass er ihn manchmal nur mit einer beinahe gewaltsamen Kontrolle beeinflussen kann, kriegt das besser hin als ich! Meine Magie ist wie ein Naturfluss, der einfach fließt wie's ihm gefällt. Ich muss lernen ihn in ein „Flussbett" zu zwingen, um ihn überhaupt kontrollieren zu können. Aber das gelingt mir nie so richtig und nur deswegen wirkt meine Magie schwächer als bei anderen! Aber wenigstens das Selbstheilen funktioniert gut.

Lautes Gemecker reißt mich aus meinen Gedanken. Sandro und Paul haben sich schon wieder in die Haare gekriegt, eigentlich wie jeden Tag. Können sich die zwei nicht einmal ein bisschen erwachsener verhalten? Nein? War mir bewusst... Schwester Johanna und Schwester Theresa scheinen die Experimente heute zu machen, denn sie erwarten uns an der Tür des Kirchenturms. Ich komme mit allen Nonnen eigentlich gut aus, außer mit Schwester Johanna. Die glaubt wirklich, dass wir von Dämonen besessen sind und dass sie die durch die Forschungen exorzieren kann. Die hat echt einen Knall! „Kinder, heute testen wir eure Kräfte in lebensgefährlichen und stressigen Situationen", erklärt Schwester Johanna, „Wir werden auf den Kirchturm gehen, ihr werdet runterspringen und hoffentlich unversehrt unten ankommen. " Ich schlucke. Ich schaffe es nicht einmal meine Kräfte zu kontrollieren, wenn ich tiefenentspannt bin, wie soll das denn unter diesem Druck funktionieren? Wir folgen den Nonnen eine enge, schiefe Wendeltreppe hinauf, auf den Turm. Als wir oben ankommen, hängt die große Kirchenglocke in der Mitte von der Decke, der kleinen viereckigen Plattform. Geländer oder etwas zum Festhalten gibt es nicht. Ein Glück bin ich schwindelfrei! Da fällt mir erst die schöne Aussicht auf. Das kleine Dorf am Fuße des Hügels, wo sich unser Waisenhaus befindet, wird von schönem, saftig grünem Wald eingerahmt und die helle Mittagssonne bringt die ganze Landschaft zum Leuchten. Doch lange kann ich das Bild nicht genießen, da schon die ersten Anweisungen von Schwester Johanna kommen. „Also Kinder wir werden nach Alter arbeiten. Zuerst der Älteste, also erst Klaus, dann Nero, Kai, Sandro und als letzter Paul. Verstanden, dann geht's los!" Sie geht an den Rand des Turms und winkt Klaus zu sich. Er atmet durch und geht zu ihr, er gibt sich keine Mühe seine Angst zu verbergen. Seine Augen huschen die ganze Zeit zum Abgrund und seine Beine zittern. „Gut, stell dich mit dem Rücken zum Abgrund", weist Schwester Johanna ihn an. Er tut was sie ihm befohlen hat, doch er fühlt sich sichtlich unwohl. Dann stößt sie ihn ohne Vorwarnung vom Turm. Panisch beginnt er zu schreien. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Paul läuft mit vor Angst geweiteten Augen zum Rand, auch Kai und Sandro schauen schockiert nach unten. Ich tue es ihnen gleich. Doch Klaus sitzt wohlbehalten auf dem Po im Gras und winkt zu uns nach oben. Ehrlicherweise habe ich nichts anderes erwartet, aber es ist doch ganz angenehm zu wissen, dass dein Bruder überlebt, wenn er mehrere Meter in die Tiefe gefallen ist. „Nero du bist dran", sagt Schwester Johanna, sie scheint es überhaupt nicht zu interessieren ob Klaus lebt oder nicht. Meine Brust zieht sich zusammen, ich will es nicht zugeben aber ich habe A..., mache mir Sorgen. Nur Sorgen. Ich versuche meine aufkommenden Emotionen zu unterdrücken. Es klappt erstaunlich gut. Ich stelle mich mit dem Rücken zum Rand. Eine leichte Brise umstreicht meine nackten Knöchel. Plötzlich schubst mich Schwester Viktoria hinunter. Mein Herz setzt wieder einen Schlag aus. Am liebsten würde ich schreien, aber ich halte mich zurück und versuche den kühlen Kopf zu behalten. Das ist jedoch nicht so einfach, wenn du den Boden immer näherkommen siehst. Ich versuche meinen Fluss in ein „Flussbett" zu drängen, ja, ja, JA! ICH HAB'S! Ein goldener Schimmer erscheint in meiner Han und ich versuche meinen Fall zu verlangsamen. Plötzlich bricht der Magiefluss wieder aus und der goldene Schimmer in meiner Hand verpufft in einer kleinen Wolke. Meine Augen reißen auf. Der Boden ist nur mehr wenige Meter entfernt. Ich versuche meine Magie wieder unter Kontrolle zu bringen. Nein! Es geht nicht! Es scheint alles wie in Zeitlupe zu geschehen. Ich sehe Klaus panisches Gesicht, den näherkommenden Boden und dann nichts mehr, weil ich meine Augen zukneife. Den Aufprall will ich nicht sehen! Plötzlich spüre ich etwas Warmes, Kitzelndes an meiner Haut. Vorsichtig öffne ich die Augen. Ein goldener Strahl, der aus Klaus Hand schießt, hält mich knapp eineinhalb Meter über der Erde. Langsam lässt er mich auf den Boden sinken. Während mein Gehirn noch versucht die Situation zu verarbeiten und mein Herzschlag wieder einen normalen Rhythmus findet, rast Klaus auf mich zu. Er packt mich an den Schultern und schaut mir geschockt in die Augen. „Alter, das hätte echt übel ausgehen können! Geht's dir gut?" Genervt schüttle ich seine Hände ab und senke beschämt den Kopf. „Ja, alles gut. Aber ich hab eigentlich nicht um Hilfe gebeten!" Klaus schaut mich an wie einen Verrückten. „Du hättest dich ernsthaft verletzen können! Verletzungen die nicht unbedingt in ein paar Minuten heilen! Doch ehrlich gesagt, hast du dafür echt entspannt ausgesehen. Wären deine Augen nicht so aufgerissen gewesen und hätte deine Unterlippe nicht gebebt, hätte ich nicht gemerkt, dass du gerade echt in Gefahr warst." Ich seufze. Klaus kann Menschen wie ein offenes Buch lesen, sogar mich und das heißt was. Da fliegt auch schon Kai vom Turm. Gefolgt von Sandro und Paul. Alle kommen problemlos unten an. Ich ignoriere den Frust, der mir meine Brust zusammenschnürt. Sie loben Klaus und fragen mich circa 200 000-mal ob es mir gut gehe. Plötzlich kommt Schwester Theresa auf uns zugestürmt. Sie ist leichenblass. „Klaus, Nero geht's euch gut?", fragt sie uns völlig außer Atem. Wow, für einen normalen Menschen ist sie echt schnell vom Turm runtergekommen. Da ich keine Lust zu reden habe, antwortet Klaus: „Jaja, alles in bester Ordnung." Die Nonne nickt erleichtert und sagt: „Gut, wir beenden die Experimente heute etwas früher. Das war genug Aufregung für einen Tag und Nero, (Ich hebe meinen Kopf ein wenig.) an deiner Magie müssen wir echt arbeiten." Meine Brust brennt vor Scham, als meine Geschwister mich anstarren.

Meine Brüder und ich gehen oft nachmittags in den Klostergarten. Da macht dann jeder so sein Ding. Kai setzt sich unter die alte Fichte und genießt die frische Luft. Sandro baut Sandburgen in einem Sandkasten, den die Nonnen und wir selbst gebaut haben. Paul und Klaus spielen meistens gemeinsam Fangen oder Verstecken. Manchmal hilft Paul aber auch den Nonnen bei den Beeten, vor allem wenn sie Karotten anbauen. Sein Lieblingsgemüse. Nicht nachvollziehbar meiner Meinung nach. Währenddessen baut Klaus aus Kastanien und Eicheln kleine Tiere, die er uns immer schenkt. Eigentlich sehr lieb, wenn nicht jeder von uns schon so um die zwanzig Stück hätte. Ich helfe meistens Sandro bei seinen Skulpturen, indem ich ihm Steine oder Äste bringe. Heute aber nicht. Ich habe mich alleine in die Bibliothek zurückgezogen. Mein liebster Raum im ganzen Kloster. Hier kommt nämlich niemals jemand her. Weder die Nonnen noch meine Brüder. Der einzige Ort wo ich meine Ruhe haben kann. Ich sitze in einem Ohrensessel und versuche mich ein wenig zu beruhigen. Ich hasse mich manchmal so sehr! Wiesowiesowiesowieso klappt das nicht!?Seit vier blöden Jahren trainieren wir schon und ich bin immer noch nicht weiter, als am ersten Tag. Ich atme ein paarmal durch, wenigstens meine Gefühle kann ich gut kontrollieren. Ich starre auf die Decke und die verzweigten Balken der Bibliothek, so kann ich am besten nachdenken. Warte, ich habe eine Idee! Vielleicht ist die richtig blöd...aber wer weiß... Ich springe auf und laufe in die Reihe mit Sachbüchern. Beim Buchstaben „A" muss es sein... Bitte...bitte... Hab's! Ich setze mich wieder auf den Sessel und schlage das Buch auf. „Was liest du da?" „Arrgh", rufe ich, „Klaus? Was machst du hier, du hast mich erschreckt!" „Hey, da kann ich mir aber auf die Schulter klopfen, dich zu erschrecken hat, glaub ich, auch noch kaum einer geschafft. (Er lässt sich neben mich in den Ohrensessel sinken, der ist so breit das locker zwei von uns bequem hier sitzen können.) Eigentlich wollte ich mit dir noch einmal reden, wegen, naja, heute..." Meine Miene verfinstert sich noch mehr. Klaus scheint das sofort zu bemerken. Denn er räuspert sich und fragt ganz unverbindlich: „Was liest du da?" „Einfache Alchemie Band 1." Klaus beginnt zu lachen: „Alchemie? Dieser Hokuspokus ist doch nur der Deppenersatz für Magie!" Da platzt mir der Kragen.„Deppenersatz für Magie? Achso. Also bin ich wohl ein Depp! Aber darf ich dir was sagen Klaus, nicht alle sind immer so mühelos perfekt wie du es scheinbar bist! Du lernst nix, bist aber ein guter Schüler, du übst nicht Magie außer beiden Experimenten und kannst trotzdem am besten mit ihr umgehen! Ich bin nicht so! Ich arbeite hart für meinen Erfolg, der mir aber magiebetreffend ausbleibt. Jetzt versuche ich mit Alchemie meine Schwäche auszugleichen und das erste was ich höre sind dumme Sprüche! Was soll das?" Ich atme durch. Da bin ich doch etwas in Rage geraten. Klaus senkt kleinlaut den Kopf. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht beleidigen. Mach wie du glaubst." Ich schaue in sein reumütiges Gesicht und kann ihm nicht länger böse sein. Er redet halt immer bevor er denkt, er meint es nicht so. „Und mir tut es leid das ich so wütend geworden bin." Er grinst und sagt: „Darf ich dir was sagen? Ich habe noch nie eine Person erlebt die so wütend aussieht, und gleichzeitig so emotionslos." Ich ziehe fragend die Brauen hoch. „Naja, dein Gesicht ist immer wie eine Maske, aber deine Augen? Würde mich nicht wundern wenn die Funken sprühen könnten." Dann steht er auf und sagt: „Ich geh wieder raus hier drinnen ist es mir zu staubig. Viel Spaß noch beim L..." Weiter kommt er nicht. Laute Schreie schallen von draußen herein. Wir schauen uns an und Klaus verdreht die Augen. „Kann man Paul und Sandro nicht einmal für ein paar Minuten alleine lassen?" „War das eine ernstgemeinte Frage?" „Nein...ich geh mal nachsehen. Tschau.", ruft er noch, während er nach draußen sprintet. Kopfschüttelnd vertiefe ich mich in das Buch. Meine allerletzte Hoffnung.

Zu fünft im Waisenhaus - Die Vergangenheit der WächterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt