Kapitel 7: Sanduhren, Therapie für die Seele

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Sandmann POV:

Nero läuft erfreut vor. Ich schwinge mich vom Ast, lasse mich fallen und verlangsame kurz vor dem Aufprall meinen Sturz. Gut, dass wir das erst vor kurzem geübt haben! Eilig folge ich meinem großen Bruder. In einem Gang stoßen wir auf Schwester Theresa und Schwester Johanna. Aufgeregt erzählt er den beiden von seinen Erkenntnissen. Schwester Theresas Meinung lautet: „Ich bin sehr stolz darauf, dass du das herausgefunden hast, aber es ist nicht akzeptabel einfach Küchenutensilien zu nehmen, ohne zu fragen. Dennoch würde ich von einer Strafe absehen..." „Machst du Witze?!", schnarrt Schwester Johanna und rückt ihr Monokel zurecht, „Er ist noch abnormaler als der Rest und soll dafür noch belohnt werden!?" Warum ist diese Frau so...so...so wie sie ist! Mir fällt kein Wort ein was schlimm genug wäre um ihr gerecht zu werden! Neros strahlendes Gesicht verwandelt sich blitzartig wieder in eine steinerne, finstere Maske. Schwester Johanna redet weiter: „Ich bin der Meinung, er sollte zusammen mit dem anderen Jungen die Sondertherapie machen!" WAS! JETZT SCHLÄGT'S ABER DREIZEHN! Ich versuche den Frust in meiner Stimme zu unterdrücken, als ich sage: „Verzeihung, dürfte ich vielleicht anmerken, dass seine Kräfte nicht unkontrollierbar sind? Sobald er den Stab hatte, konnte Nero seine Magie besser und sicherer nutzen als jeder von uns! Er braucht nicht noch zusätzliche Fol... äh Therapie!" Schwester Johanna beugt sich zu mir hinunter, ihr teigiges Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. „Das muss er mir erst beweisen." Ich verkneife mir ein Naserümpfen. Die Alte riecht wie frisch aus der Räucherkammer gekommen. Was hat die bitte angestellt? „Entschuldigung, könnten Sie vielleicht etwas zurückweichen? Ich fühle mich etwas unwohl", bitte ich mit unschuldiger Stimme. Als sie sich aufrichtet zischt sie etwas Unverständliches. Wahrscheinlich eine Beleidigung. Dann wendet sie sich an Nero und sagt sie laut: „Wenn du mir jetzt beweist, dass deine Magie jetzt irgendwie funktioniert, gibt's keine Sondertherapie. Sollte das nicht klappen, sehen wir weiter." Ich will noch etwas erwidern, doch Nero winkt ab und fragt: „Wann?" „Jetzt." Schwester Theresa weitet die Augen und sie wirft ein, dass es ja gleich Abendessen gäbe. „Ich habe sowieso keinen Hunger. Bis später Sandro", meint er und folgt mit leicht gesenktem Kopf und seinem Stab der Nonne. Er tut mir SO leid! Schwester Theresa räuspert sich und sagt: „Kommst du? Es gibt Essen. "Seufzend gehe ich neben ihr her. Zögerlich legt die Schwester beruhigend eine Hand auf meine Schulter. Doch die Berührung ist mir unangenehm. Mit einer ruckartigen Bewegung schüttle ich die Hand ab. Ein bisschen beleidigt sieht sie schon aus, aber sie nickt verständnisvoll. Sollte mich jemand für einen schlechten Menschen halten, bin ich nicht. Ich mag einfach körperliche Nähe nicht! Da verkrampfe ich mich immer und fühle mich nicht wohl. Ähnlich wie Nero. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum ich mich mit ihm am besten verstehe... Drinnen im Speisesaal warten meine Brüder schon auf ihren Plätzen. Ich gehe zu ihnen und sie schauen mich an. „Fehlt Nero schon WIEDER?", fragt Klaus. „Was habt ihr eigentlich dahinten im Garten gemacht?", will Paul wissen. „Können wir ihn vielleicht einmal ankommen lassen?", ist die (beste)Frage von Kai. Ich lasse mich in den Stuhl neben Kai fallen und starre hungrig meinen noch leeren Teller an. Paul, der vor mir sitzt, zappelt unruhig. "Und?" Kann der sich nicht nur ein EINZIGES Mal gedulden? "Erstens: Ja, Nero fehlt wieder. Zweitens: Im Garten haben wir vorhin einen Zaubertrank gebraut", antworte ich auf die gestellten Fragen. "Ihr habt WAS getan?", fragen die drei gleichzeitig. "Ich hab es doch laut und deutlich gesagt!" "Was für ein Trank war es denn?", will Kai wissen. "Nero hat sich einen Zauberstab hergestellt, ist schwierig zu erklären, aber seine Magie funktioniert jetzt." Klaus glotzt mich verblüfft an. "Dieser Hokuspokus hat echt geklappt?!" Kai blickt ihn leicht genervt an. "Offenbar. Doch warum ist er nicht zum Essen kommen?" Mein Gesichtsausdruck verfinstert sich. "Schwester Johanna will Beweise, dass es wirklich klappt und er seine Kräfte unter Kontrolle hat. Aber das hat er definitiv! Ich hab's doch gesehen! Er ist kein abnormaler Außenseiter der eine Sondertherapie braucht!", da wird mir klar was ich gerade gesagt hab und schaue den wütend aussehenden Kai entschuldigend an, "Nicht bös gemeint." Er winkt ab. "Ich bin's gewöhnt." Da bringen die Nonnen das Abendessen rein. Gemüsesuppe!? Ernsthaft. Angewidert schaue ich in den großen Topf. ÄH! Brokkoli! Das schlimmste Gemüse überhaupt. Ich schöpfe mir zwar Suppe in die Schale, picke aber (unter entsetzten Blicken von Klaus) den Brokkoli raus und anderes ekliges Zeug. Ja ich weiß das ich pingelig bin! Na und? Was nicht schmeckt, schmeckt einfach nicht. Klaus schaut auf den leeren Platz neben mir. "Glaubt ihr Nero kommt noch?" Ich zucke ratlos mit den Schultern. Plötzlich hallt ein ohrenbetäubender Schrei durch das Kloster. Vor Schreck zucke ich zusammen. Klirr! Paul hat seine Schale fallen lassen und die heiße Suppe verteilt sich überall, auch auf unseren nackten Füßen. Doch ich habe keine Lust jetzt mit ihm darüber zu streiten. Dieser Schrei...das muss Nero gewesen sein! "Wow, was tun die ihm an, damit unser Musterknabe so brüllt?", fragt Klaus mit einem verängstigten Blick. Das ist eine berechtigte Frage, denn Nero schreit von uns Brüdern echt am wenigsten. Kai murmelt etwas vor sich hin. Mein Hunger ist verflogen, mein Magen ist von einem flauen Gefühl erfüllt. Ein zögerliches Lachen ist unter dem Tisch zu hören. Paul schaut verlegen nach oben und murmelt: "Ich weiß, das passt jetzt überhaupt nicht zum Thema, aber kann mir jemand helfen?" Klaus verdreht zwar genervt die Augen, hilft ihm aber. Ich halte es nicht mehr aus, nuschle etwas, was ich selbst nicht mal verstehe und eile ins Zimmer. Dort nehme ich mir meine Sanduhr von dem Regal mit unseren wenigen Habseligkeiten. Ich setze mich auf den Boden, drehe ich die Uhr um und beobachte den rieselnden Sand. Sofort merke ich wie das flaue Gefühl und die Sorgen sich verflüchtigen. Sanduhren sind einfach Therapie für die Seele. Meine Gedanken driften ab und ich fange an zu träumen. Dabei summe ich eine Melodie vor mich hin, die ich schon kenne seit ich denken kann. Vielleicht habe ich sie mir selbst einmal ausgedacht, vielleicht ist so noch von unseren Eltern. Ich weiß es nicht, aber sie hilft mir immer mich noch mehr zu entspannen.

Eine Berührung an der Schulter holt mich aus meiner Trance. Meine Brüder sind mittlerweile wieder da. "Alles klar?", fragt Klaus. Als ob er nicht eh wüsste wie es mir geht! Ich stelle meine Sanduhr wieder zurück. Es herrscht eine Totenstille. Bevor es zu unangenehm wird, geht die Tür auf und ein komplett erschöpfter Nero kommt hereingestolpert. Wackelig stützt er sich auf sein Zepter. Klaus spricht aus was alle sich denken: "Oh Gott! Was haben sie mit dir gemacht?"

Zu fünft im Waisenhaus - Die Vergangenheit der WächterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt