Kapitel 10: Die Sehnsucht wird stärker

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- 8 Jahre später -

Mann im Mond POV:

Ich wache auf, halte meine Augen jedoch noch geschlossen. Heute ist unser Geburtstag. Nicht, dass wir irgendwas besonderes bekommen, (außer vielleicht einen Kuchen, wenn die Nonnen gut drauf sind...) dennoch wird man nicht jeden Tag sechzehn. Ich öffne die Augen und mein Blick wandert direkt zum Fenster. Da spüre ich wieder dieses altbekannte Ziehen im Magen. Die Sehnsucht nach draußen, nach Abenteuern, nach Freiheit. Sie ist in letzter Zeit immer stärker geworden und bringt mich beinahe um den Verstand. Doch ich war mir immer unsicher, ob ich ihr schon nachgeben soll. Ich stehe auf und blicke auf das altbekannte Bild vor unserem Fenster. Eine laue Brise streicht mir um die Nase. Nein, ich halte es hier nicht mehr aus! Mir wird klar, dass ich mich bereit fühle zu gehen. Aber mir ist auch klar, dass ich es ohne Hilfe nie rausschaffen werde. Seufzend wende ich mich vom Fenster ab und sehe Klaus, der gerade durch die Tür reinkommt. Er ist leichenblass und seine Augenringe sehen aus wie blaue Flecken. Seit Monaten ist seine Angst auf eine neue Ebene gekommen. Er kann nicht mehr schlafen, egal ob er am Rand liegt oder nicht. Egal ob ein Licht brennt. Natürlich wissen mittlerweile auch die anderen Bescheid. Er tut mir so leid. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen... "Wo warst du?" Klaus reibt sich die Augen und brummt: "Der Ofen in der Küche war kaputt. Hab ihn repariert..." Stöhnend zieht er seine knallrote Zipfelmütze ab und rauft sich die Haare. Sollte ich Klaus von meinem Vorhaben erzählen? Ich bin mir nicht sicher. Wenn ich eine Sache nennen müsste, die sich niemals ändert, würde ich Klaus unüberlegtes Geplapper sagen.  Nein, er ist definitiv nicht der Richtige! "Morgen", gähnt Paul, der gerade aufgewacht ist. Auch Nero und Sandro werden langsam munter. "Alles Gute zum Geburtstag Jungs!", ruft mein jüngster Bruder enthusiastisch. Von den anderen kommt als Antwort nur undeutliches Gemurmel. Dann kommt auch schon eine Nonne die uns bittet uns fertig zu machen.

Klaus und Paul brauchen wieder ewig mit ihren Frisuren, aber wir machen uns schließlich auf den Weg zum Frühstück. Die Nonnen haben tatsachlich einen Kuchen gebacken und ein paar gratulieren uns sogar. Das ist nicht selbstverständlich.

 Nachdem Essen gehe ich in den Hof, um meinen Ausbruch aus diesem Gefängnis von Waisenhaus genauer zu planen. Nero zieht sich wie so oft in die Bibliothek zurück, Klaus hilft den Nonnen in der Küche und die anderen zwei gehen zurück ins Zimmer. Was auch immer die da machen wollen.

Osterhase POV:

Eigentlich wollte ich nur kurz in unser Zimmer gehen, um mein Hemd zu wechseln, da ich das jetzige beim Frühstück angepatzt habe. Und wer ist natürlich bei mir? Sandro! 

Ich habe gehofft das sich unser Verhältnis bessert, aber in den letzten Jahren ist es NOCH schlimmer geworden! Falls jemand fragt, ja, das ist möglich! Tägliche, heftige Streitereien sind zum Alltag geworden und nicht selten werden wir handgreiflich, oder eher magiegreiflich... Gibt's das Wort? Egal! Man weiß was ich mein! Aber mittlerweile gewinne ich diese Kämpfe meistens, da ich etwas neues über meine Magie herausgefunden habe! Ich kann sie in verschiedene Körperteile fließen lassen, um sie zu stärken. Wenn ich beispielsweise laufe und die Magie in meine Beine schicke, renne ich fast dreimal so schnell. Das ist der Hammer! Nicht verwunderlich das Sandro keine Chance mehr gegen mich hat! Doch stattdessen nutzt er eine große Schwäche von mir aus, um die verlorenen Kämpfe auszugleichen. Meine Gefühle. In all den Jahren habe ich nicht gelernt sie zu kontrollieren, was nicht gut ist, da meine Magie ja sehr gefühlsabhängig ist. 

Grinsend rempelt mich mein großer Bruder an. "Na du Hasenfuß?" "Was willst du von mir?", frage ich genervt. Kann man nicht einfach mal in Ruhe sein Hemd wechseln? "Hast du dich wie ein kleines Baby angepatzt?", fragt er mit gehässiger Stimme, "Oje, sechzehn, aber geistig erst soweit wie ein Baby..." Reg dich nicht auf Paul! Das ist das, was er erreichen will, steig nicht drauf ein! Aber der Ärger fängt langsam an sich zu regen. "Immerhin sitz ich als Sechzehnjähriger nicht mehr in der Sandkiste!", kontere ich, aber die Wut verpufft durch diesen Satz trotzdem nicht. Wir haben das Zimmer erreicht und ich ziehe mir mein Hemd über den Kopf. Aus dem Kasten fische ich mir ein neues heraus und ziehe es mir an. Ich drehe mich um. Sandro lehnt lässig an der Tür und hat seine, wie er es nennt, Spieluhr, in der Hand. Das Teil hat doch nix mit einer Uhr zu tun! Er schaut mich mit fiesen Augen an. Langsam geht er mir echt auf die Eier! "Wenn du nix mehr zu sagen hast, hau ab!", knurre ich, meine Geduld ist langsam am Ende. Meine Wut staut sich immer mehr auf. Ich atme durch, doch ich beruhige mich kein Stück. Nicht ausrasten Paul. Er ist es nicht wert! "Wirst du wütend? Das tut mir jetzt aber leid..." Ja klar! Als ob er das ernst meint! Ich würde ihm sogar mehr glauben wenn er mir erzählen würde, dass magische Bohnen wirklich existieren! Nicht durchdrehen... "Klaus geht dir ein wenig aus dem Weg, oder?", fragt er mit einem seltsamen Unterton. "Halt deine dreckige Nase da raus!", fauche ich. Langsam treibt er mich echt zur Weißglut! Nur mit Mühe und Not kann ich meine Kräfte noch in Schach halten. Mit einem amüsierten Grinsen fügt er noch hinzu: "Scheinbar noch einer der mit deinen Aggressionen nicht klarkommt. So schnell kann's gehen..." Arrrgh! Ich schreie. Ein heißes Feuer der Wut brennt in meiner Brust! Er hat alle wunden Punkte bei mir getroffen, die es gibt! Eine heftige Druckwelle lässt den Raum erzittern und schleudert Sandro gegen den Türrahmen. Ein lautes Klirren ertönt. Doch es dringt kaum zu mir durch. Um nicht in Tränen auszubrechen kneife ich meine Augen zu. Ich muss runterkommen! Nicht vor Ärger heulen! Einfach durchatmen. "Klaus hat kein Problem mit deinen Aggressionen. Er ist einfach nur fertig wegen seiner Angst. Das ist alles. Sobald es ihm wieder besser geht, verbringt er wieder Zeit mit dir!", sage ich mir in Gedanken. Ein Schrei holt mich zurück in die Gegenwart. Sandro kniet auf dem Boden und schaut geschockt auf viele winzige Metallteile vor ihm. "Meine Spieluhr!", schreit er verzweifelt. Schlag auf Schlag wandelt sich meine Wut in Entsetzen um. Das wollte ich jetzt wirklich nicht! Da kommt plötzlich Klaus ins Zimmer gestürmt. "Was ist denn hier schon wieder los!", fragt er und erstarrt als er die Einzelteile sieht. Sandro scheint den Tränen nahe zu sein. "E...e...er hat sie zerstört!" "Es war keine Absicht!" "Das ändert nichts daran, dass sie kaputt ist!" Wir schreien uns lautstark an bis Klaus brüllt: "ES REICHT!" Wir erstarren. Ja, jetzt wird er Sandro sagen, dass er selbst Schuld ist! Gib's ihm Klaus! "Da bekommt man ja Kopfschmerzen! Da ich euch beide kenne, vermute ich, dass Sandro derjenige war, der den Streit begonnen hat und daraufhin ist Paul ausgerastet." Ich nicke. Klaus schüttelt den Kopf. "Paul, du musst deine Emotionen echt unter Kontrolle bringen!" Hab ich das richtig gehört? "W...w...was?" "Du hast mich schon verstanden, du hast schon oft Dinge von uns kaputt gemacht, wenn du ausgeflippt bist! Das muss aufhören! Sonst wird irgendwann vielleicht etwas schlimmeres zu Bruch gehen als nur die Spieluhr!" Meine Augen füllen sich mit brennenden Tränen. "DU BIST AUF SEINER SEITE!?", keuche ich und zeige anklagend auf Sandro. "Nein! Es ist nicht in Ordnung, dass er dich dauernd ärgert. Aber solltest du nicht auch mittlerweile abgehärtet sein?" Ich kann es nicht fassen. Meine Lunge schnürt sich zusammen meine Augen brennen. Wut und Trauer flammen in meiner Brust auf und vereinen sich zu einem heftigen Sturm. "WAS IST MIT DIR PASSIERT, KLAUS! ICH ERKENNE DICH ECHT NICHT WIEDER!" "Mir reichen diese ständigen Streitereien und Eskalationen! Ich habe eigentlich eigene Sorgen, muss mich aber die ganze Zeit, um eure Probleme kümmern! Meine Geduld ist auch nicht unendlich, KAPIERT? Also bring dich endlich unter Kontrolle!" "VON EINEM TYPEN DER ANGST VOR EINEM MONSTER UNTERM BETT HAT, LASS ICH MIR GAR NICHTS SAGEN! ICH HASSE EUCH! ICH HASSE DIESES WAISENHAUS! ICH WÜNSCHTE ICH MÜSSTE EUCH NIE WIEDER SEHEN!", brülle ich, schicke meine gesamte Magie in meine Beine und rase aus dem Zimmer. Die Gänge verschwimmen vor meinen Augen. Ein riesiges Loch reißt in meinem Herzen auf. Alles scheint sich zu drehen. Ich muss hier raus! So schnell ich kann, renne ich in den Hof, zu den Bäumen im hinteren Teil des Gartens. Dort lasse ich mich unter einer Kastanie auf den Boden sinken. Unter einer Wurzel hole ich den Kuschelhasen Chris hervor, den Klaus mir zu Weihnachten geschenkt hat. Zu einer Zeit, wo noch alles gut war zwischen uns. Fest drücke ich ihn an mich und ziehe die Knie  an meine Brust. Ich lasse meinen Tränen freien Lauf. Wie Sturzfluten laufen sie meine Wangen hinunter. Die heftigen Schluchzer lassen meinen gesamten Körper erbeben. Ich habe das Gefühl, als würde mich die Trauer in einen unendlichen, dunklen Strudel ziehen. Doch ich wehre mich nicht. Klaus war immer mein allerliebster Lieblingsbruder, aber jetzt? Ich schmiege meinen Kopf noch enger an meinen Hasen. So hintergangen habe ich mich noch nie gefühlt! Wieso ist Klaus plötzlich gegen mich? Ich verstehe die Welt nicht mehr! Da spüre ich eine vorsichtige Berührung an meiner Schulter. Mit verquollenen Augen schaue ich schräg über mich. Durch den Tränenschleier erkenne ich Kai.

Mann im Mond POV:

Eine ganze Weile bin ich schon im Garten und verfeinere meinen Plan. Plötzlich kommt ein unscharfes Etwas mit Höchstgeschwindigkeit an mir vorbeigelaufen. Es gibt nur einen, der so schnell rennen kann. Paul. Er rast zu den hinteren Bäumen, kurz darauf höre ich markerschütterndes Schluchzen. Was ist denn los mit ihm? Leise schleiche ich zu den Bäumen und erstarre in der Bewegung, als ich meinen kleinen Bruder unter einem Kastanienbaum entdecke. Zusammengekauert hockt er da und weint laut. Er wirkt so klein und zerbrechlich! Das tut in der Seele weh! Ruhig komme ich zu ihm und lege sanft meine Hand auf seine Schulter. Er schaut mich mit roten, verweinten Augen an. Was ist passiert, dass er so heftig weint? "Möchtest du reden?", frage ich leise. Er schüttelt den Kopf und presst etwas an seine Brust. "Eine Umarmung?", versuche ich es nochmal. Er nickt zaghaft. Ich setze mich neben ihn und drücke ihn an mich. Als er seine Arme um meinen Bauch schlingt erkenne ich das Etwas, was er sich an die Brust gepresst hat. "Chris? Ich dachte du hättest ihn verloren?" Paul löst sich aus der Umarmung. Sein Gesicht ist rot angelaufen. Er stammelt: "Es war mir irgendwie p...p...peinlich, dass ich ein Kuscheltier brauche um mich zu beruhigen. Ich wollte ihn wegwerfen, hab es aber nicht übers Herz gebracht. Naja, dann hab ich ihn hier vergraben." Das kommt mir seltsam vor. Paul ist eigentlich so gut wie gar nichts peinlich. "Hat Sandro dir das eingeredet?" Seine Miene verfinstert sich. Also ja. "Ich will nicht mehr über diesen Idioten reden!", faucht er, "Am liebsten will ich ihn nie wieder sehn!" Wow, da muss echt etwas schlimmes vorgefallen sein! Paul redet sich langsam in Rage. "Er hat mich schon so lange schikaniert, aber ich kann ihm einfach nicht aus dem Weg gehen, weil wir in diesem dummen Kloster eingepfercht sind!", ruft er, stockt und fügt leise, ganz leise hinzu, "Ich wünschte ich wäre mutig genug das Waisenhaus zu verlassen." Das überrascht mich. Sowas hat noch keiner meiner Brüder gesagt. Vielleicht ist Paul der Richtige, um mir zu helfen? Ich denke an all die Momente, die wir zusammen verbracht haben, zurück. Mit ihm habe ich mehr schöne und vertrauliche Augenblicke gehabt, als bei jedem anderen. Ja! Er ist der Richtige! Ich flüstere: "Darf ich dir was sagen, ich will das Waisenhaus wirklich verlassen." Pauls Augen werden groß. "Bevor du irgendwas sagst, lass mich erst einmal erklären", bitte ich ihn. Er nickt, schaut mich aber immernoch erschrocken an. Ich hole Luft und spreche zum ersten Mal in meinem Leben genau das aus, was ich denke: "Ich halt es hier drinnen nicht mehr aus! Meine Sehnsucht nach der Natur wird immer stärker! All die Jahre wusste ich schon, dass ich irgendwann ausbrechen will, habe mich aber noch nie bereit gefühlt. Und jetzt? Wir sind sechzehn! Wie lange wollen die Nonnen uns noch hier festhalten? Ich kann das einfach nicht mehr! Aber alleine würde ich es niemals schaffen mich unentdeckt raus zu schleichen. Hilfst du mir?" Paul schaut still und nachdenklich ins Leere. Nach einer Weile meint er: "Du bist so mutig! Ich würde mich das niemals trauen! Gut, ich helfe dir unter einer Bedingung, naja, genauer gesagt zwei..." Ich mache mir Sorgen was er will, aber stimme zu. "Du musst wiederkommen und mir sagen wie es war. So lange bis ich bereit bin mitzukommen." "In Ordnung. Und das zweite?" Paul fängt frech zu grinsen an. "Nimm mir Karotten mit. Es gibt keine mehr und die Nonnen haben auch keine angebaut." Da muss ich lachen und sage: "Abgemacht. Lass mich dir den Plan erklären. Das wird unglaublich!" 

Okay, ich habe mich dazu entschieden, jetzt wirklich nurmehr ein Kapitel pro Tag hochzuladen. Das ist weniger stressig für mich und hält mich länger bei guter Schreiblaune. Das war's auch schon vor meiner Seite. Bis morgen zum nächsten Kapitel. :)

Zu fünft im Waisenhaus - Die Vergangenheit der WächterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt