Kapitel 5: Eine wunderschöne rote Blume

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Mann im Mond POV:

Ein Tag wie jeder andere. Wenigstens letzte Nacht ist etwas Spannendes passiert, aber wenn ich ehrlich bin, hatte ich keine Angst vor diesem komischen Mann. Im Gegenteil, er hat mich fasziniert! Er kommt von draußen, aus der weiten Welt, die wir unserem Leben nur durchs Fenster sehen können! Ich wünschte ich könnte nur einmal raus. Einmal. Die Sehnsucht wird von Tag zu Tag stärker, aber ich habe auch ein wenig Angst vor den Menschen. Die sind böse! Sie haben mir früher solche Schmerzen bereitet und würden es wahrscheinlich jederzeit wieder tun.

Doch ich habe keine Zeit mehr meinen Gedanken nachzuhängen. Das Mittagessen ist vorbei und das heißt die Experimente gehen weiter. Aber nur für mich! Denn sonntags haben wir eigentlich keine Untersuchungen, außer ich, da ich der Mächtigste und, in den Augen der Nonnen, der Bedrohlichste bin. Ich treffe mich mit Schwester Johanna vor den Kellerstufen. Ausgerechnet SIE macht die Experimente! Und das auch noch ganz alleine, die anderen Nonnen holen sie oft wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn sie zu weit geht. Doch nicht bei mir. Sie schaut mich grinsend an, rückt ihr Monokel zurecht und schnarrt: „Folge mir!" Wir gehen die lange knarrende Kellertreppe hinunter in das „Labor", das eigentlich nur eine Folterkammer ist. Meine Laune verdüstert sich. Warum sind meine Brüder nur so naiv und glauben, dass wir hier sicher sind? In der Mitte des Raumes liegt ein Kreuz an das Ketten angebracht sind. „Wir machen wieder Schmerzenstests", erklärt Schwester Viktoria. Ich starre sie entsetzt an. „Schon wieder? Das haben wir doch erst vorletzte Woche gemacht!" „Ja aber wir haben noch nicht alle Arten von Schmerzen getestet." Die Erinnerungen vom letzten Mal kommen hoch. Es gab ein Gewitter und sie hat mich den Blitzen ausgesetzt, anschließend hat sie mir noch sämtliche Knochen gebrochen. Das waren bisher die schlimmsten Schmerzen meines gesamten Lebens! Es ist zwar alles schnell wieder verheilt, aber ich habe mich noch nie zuvor so schwach gefühlt. Sie fordert mich auf, mich auf das Kreuz zu legen. Dann kettet sie meine Arme und Beine an. Eine riesige Welle aus Hass überkommt mich. Am liebsten hätte ich mich einfach befreit und wäre weggelaufen. Aber ich traue mich nicht. „Bist du bereit?", fragt Schwester Johanna, auf ihrem faltigen Gesicht tanzen die unheimlichen Schatten der Fackeln und sie schleift einen Dolch. Ihr Blick ist beinahe psychopathisch. Ich fühle mich absolut nicht bereit, aber habe ich eine Wahl? Ich nicke ruckartig. Sie kommt auf mich zu und ohne Vorwarnung sticht sie mir mit dem geschliffenen Dolch in die Seite. Mir bleibt die Luft weg, der Schmerz bringt meinen gesamten Körper zum Verkrampfen. Ich sehe wie sich mein weißes Hemd rot verfärbt. Blut! Ich kneife die Augen zusammen. Ich will das nicht sehen! Doch alleine der metallische Geruch reicht, um mir komplett den Magen umzudrehen. Zack, ein weiterer Stich in meinen Magen. Ich beiße mir fest auf die Lippe, damit mir kein Schrei entwischt. Ich will ihr nicht dieses Vergnügen bereiten. Ich spüre wie meine Magie in die Wunden strömt um sie zu schließen. Doch bevor der Schmerz linder wird, sticht sie noch ein letztes Mal zu. In mein Herz. Es hört auf zu schlagen, mein Atem steht still. Die ganze Magie zieht von den anderen zwei Wunden zur Schlimmsten. Mein Körper wird taub. Dann fängt die Heilung an und einfach alles beginnt zu brennen. Meine Brust. Arme. Beine. Ich beiße noch fester zu. Bis ich etwas Nasses an meinen Lippen spüre. Blut. Noch mehr Blut, welches mir in den Mund läuft und meinen verletzten Magen an seine Grenzen treibt. Die Schmerzen enden nicht, mein Kopf ist mit Nebel gefüllt und langsam verliere ich das Bewusstsein. Plötzlich enden die schlimmsten Schmerzen, mein Herz schlägt wieder und die Magie eilt zu den anderen zwei Stichwunden. Keuchend schnappe ich nach Luft. Der Nebel in meinem Kopf lichtet sich fast sofort. Meine Kraft ist so ausgelaugt, dass es eine ganze Weile dauert bis die Stichwunden, aber auch meine Lippe, verheilt sind. Als auch der letzte Schmerz aus meinem Körper verschwunden ist, gebe ich einen erleichterten Seufzer von mir. Ich mache meine Augen auf. Schweiß- und blutüberströmt liege ich da, starre auf die Decke, die aber vor meinen Augen verschwimmt. „Nicht schlecht", schnarrt Schwester Viktoria, während sie meine Ketten löst, „Steh auf, einen Test haben wir noch, dann kannst du rausgehen!" Ich rapple mich auf und steige vom Kreuz herunter. Doch mein Magen hält den Blutgeruch und alles was gerade passiert ist nicht mehr aus. Ich beuge mich vornüber und erbreche auf den Boden der Folterkammer. Schwester Johanna schaut mich angewidert an. „Mach das weg und dann geht's weiter!" Wütend schnappe ich mir einen Lappen und wische das stinkende Zeug auf. Ich will nicht mehr! Ich KANN nicht mehr! Wieso tut man uns das an? Naja, immerhin kann ich durch meine Kotze noch ein paar Minütchen Regenerationszeit rausholen. Als ich den Dreck endlich sauber gemacht habe, blicke ich Johanna finster an. Ich versuche gar nicht erst meine Abneigung zu verbergen. Sie grinst mich gehässig an und sagt nur ein Wort: „Feuer." Echt jetzt!? Mit einem Wink deutet sie mir, zum Kamin des Raumes zu kommen. „Geh rein!", befiehlt sie mir. Ich fange an zu zittern vor Hass, aber auch Angst. Nein! Vor dieser alten Schachtel fürchte ich mich nicht! Ich recke meinen Kopf und klettere hinein. Die Nonne nimmt eine Fackel aus der Halterung und wirft sie in hohem Bogen in den Ofen. Das morsche Holz fängt sofort Feuer. Arrrgh! Ein kleiner Schrei entwischt mir doch. Aber es war notwendig! Der Schmerz ist das, was der Redewendung „die Hölle auf Erden", am nächsten käme. Langsam züngeln die Flammen an meiner Hose hoch und übersähen meine Beine mit Brandblasen. Meine Magie strömt sofort zu ihnen hin, doch sobald sie verheilt sind, tauchen wieder neue auf. Ein Teufelskreis. Etwas Feuchtes läuft meine Wange hinunter. Ob es Schweiß ist, oder eine Träne, kann ich nicht sagen. Mir wird schwindlig und wieder übel, vor allem wegen dem Geruch verbrannten Fleisches. Das Feuer wandert weiter zu meinem Oberkörper. Der Rauch wird dichter. Luft! Ich brauche frische Luft! Ich atme keuchend ein. Doch statt frischer Luft macht sich kratzender Rauch in meiner Lunge breit, der mich heftig husten lässt. Der Rauch wird noch dichter. Luft! LUFT! ICH BEKOMME KEINE LUFT! ICH ERSTICKE! Mit letzter Hoffnung schaue ich zu Schwester Viktoria. Bläst sie das Experiment ab? Ihr Gesicht verzieht sich kein bisschen. Jetzt reicht's! Mein Kopf füllt sich mit Nebel, meine Lunge mit Rauch, mein Körper ist mit Brandblasen übersäht und sie steht einfach nur da! Auch wenn es weh tut meine Kräfte außerhalb meines Körpers zu verwenden, muss ich es jetzt tun! Ich suche den heftigsten Strom meiner Magie und setze ihn durch die Hände frei. Ah. Das altbekannte, schmerzhafte Ziehen fährt durch meine Brust. Mein Körper ist einfach noch nicht stark genug für diese große Macht. Die Luft pulsiert, goldenes Licht erstrahlt und drängt die Flammen zurück. Immer weiter, bis sie schließlich gänzlich erlöschen. Ich höre auf meine Kraft zu verwenden und das Ziehen in meiner Brust endet sofort. Gleichzeitig strömt die Magie zu den Brandblasen, welche binnen von Sekunden verschwunden sind. Vor Erleichterung stöhne ich leise. Ich steige aus dem Kamin. Beeindruckend, mein Körper macht alles mit ohne umzukippen! Schwester Viktoria schaut mich geschockt und verwirrt an. Ich wische mir etwas Ruß aus dem Gesicht und frage mit kratziger Stimme: „Sind wir fertig?" Sie nickt mechanisch und sieht aus als hätte sie einen Geist gesehen. Ich mache mich auf den Weg in die Waschkammer. Wieder muss ich heftig husten. Langsam klingt die Magie ab und mein Körper scheint die Strapazen doch nicht einfach so weggesteckt zu haben! Meine Beine fangen an zu zittern und ich muss mich an der Wand abstützen. Ich versuche ruhig zu atmen, doch stattdessen breche ich in einen keuchenden Husten aus. Luft! Ich brauche frische Luft! So schnell meine Beine mich tragen torkle ich in den Hof. Die kalte Novemberluft strömt in meine Lungen. Eine ganze Weile stehe ich einfach nur da und atme. Gleichzeitig kühlt mein komplett überhitzter Körper langsam ab. Mein Gleichgewichtssinn wird langsam wieder besser. Ich entdecke meine Brüder an den üblichen Plätzen, alle außer Nero, er ist wieder nicht da. Doch ich habe keine Lust ihnen so rußbeschmiert unter die Augen zu treten. Also gehe ich zu einer anderen Stelle, wo ich gerne sitze. Unter einem Fliederbusch, da es dort richtig weiche Moospolster gibt. Erschöpft lasse ich mich auf den Boden sinken. Das es langsam zu kalt wird um sich auf die Erde zu setzen stört mich nicht. Ich lasse meine Augen umherwandern, plötzlich entdecke ich im rechten Augenwinkel etwas. Ich drehe mich zur Seite und ein paar Meter neben mir blüht eine wunderschöne, rote Blume. Welche Blume blüht bitte im November? Neugierig komme ich näher. Wow! Diese hauchzarten, samtroten Blütenblätter und das schwarze Innere sind das Schönste was ich jemals sah. Fasziniert schaue ich sie weiter an. Vorsichtig streiche ich mit zwei Fingern über die Blüte. Genauso seidigweich wie sie aussieht! Plötzlich strömt eine angenehme Wärme durch meinen Körper, die sich mit meiner Kraft verbindet. Meine Magie jagt durch mich und kitzelt mich überall. Leise muss ich kichern. Wow. Ich habe fast vergessen wie schön es ist zu lachen! Auf einmal hört meine Lunge endgültig auf zu kratzen, meine Erschöpfung verfliegt und meine Magie scheint auf Hochtouren zu sein. Doch nicht auf die unberechenbare Art, sondern auf eine Angenehme. Ich zucke mit den Fingern zurück. Die Wirkung hält noch immer an. Wahnsinn! Ich habe keine Ahnung wie ich das gemacht habe! Die Blume muss das gewesen sein! Langsam klingt meine Magie wieder ab, doch die Müdigkeit bleibt weg, genauso wie das Kratzen in der Lunge. Ich berühre die Blüte nochmal um sicherzugehen. Wieder schwillt die Kraft meiner Magie an. DAS IST DER HAMMER! Ich springe auf und will es meinen Brüdern erzählen, doch etwas hält mich zurück. Sandro würde es nicht interessieren. Klaus würde es vor den Nonnen ausplappern, denn er redet ja immer ohne nachzudenken. Nero? Nein, der würde das in seinem Wissensdurst sicher weiter erforschen wollen und ich muss schon genug Untersuchungen ertragen! Paul, auch nicht, er ist zu naiv und würde es Schwester Viktoria sagen. Es wäre natürlich nur gut gemeint, doch das kann ich wirklich nicht gebrauchen. Am besten sage ich nichts. Zumindest vorerst. Ich will diese Blume bei mir haben, aber ich bringe es nicht übers Herz sie zu pflücken. Also zupfe ich vorsichtig ein einzelnes Blütenblatt ab. Die Wirkung ist zwar nicht so stark wie bei der ganzen Blume, doch meine Kraft fühlt sich viel ausgeglichener und gleichzeitig auch lebendiger an. Ich atme nochmal tief durch und mache mich endlich auf den Weg in die Waschkammer. Ich halte das Blütenblatt in meiner Hand, während ich mir eines schwöre: „Irgendwann, irgendwann werde ich herausfinden wo diese Schönheit herkommt. Koste es was es wolle!"

Zu fünft im Waisenhaus - Die Vergangenheit der WächterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt