Der Kreis im Rechteckland
Gewidmet Paul
Es lebte einst, vor langer Zeit,
ein Kreis im hübschen Rechteckland.
Er lebte stets in Fröhlichkeit,
die Trauer war ihm unbekannt.
Ja, sicher, jeder Kreis, gewiss,
hat auch einmal manch schlechten Tag.
Doch nie ein schlechter Tag zerriss
dem Kreis, was ihm am Herzen lag.
Die Welt war hübsch im Rechteckland,
war kantig, stählern, einheitlich.
Und jedes Rechteck, das man fand,
erfüllte Standards willentlich.
Gar überall, ob Land, ob Haus,
ob Werbung oder Schuhgeschäft,
sie alle sahen gleichlich aus,
egal wen ihr, bis heut, dort trefft.
Denn alles hatte dort ein Maß,
ein Maß, das jedem war bekannt.
Ein Maß, das höchsten Wert besaß;
ein Maß bestimmt das Rechteckland.
Vier Seiten, rechte Winkel, seht,
ein jeder weiß, wie's ausseh'n muss.
Ein hübsches Rechteck vor uns steht,
wenn's folgt, wenn's kommt zu dem Entschluss.
So lebte man im Rechteckland:
die Welt war hübsch, war uniform.
Man liebte, was schon längt bekannt,
man liebte eine hübsche Norm.
An einem Tage kam es nun,
der Kreis aus seinem Hause trat,
mit hübschem Hut, mit hübschen Schuh'n,
als ihn ein schweres Worte traf:
„Ein Kreis? Wie hässlich er doch ist;
ganz rund und weich, ja seht, entstellt..."
„Sag, Kreis, weißt du, wo du hier bist,
in welchem Land? In welcher Welt?"
Der Kreis, erschrocken, fragte schnell:
„Was meint ihr?", sah an sich hinab;
erblickte: rund war sein Modell;
und weinend brach Gespräch er ab.
Im Spiegel stehend sah er sich.
Er sah sich an, die Form, ganz rund.
„Ich bin ein Kreis. Wie fürchterlich.",
tat er Erkenntnis selbst sich kund.
„Ich habe keine Kante; hart
ist nur die Strafe, die mich trifft.
Ich bin nicht stark. Ein jeder starrt
mich an. Es schmerzt. Es ist wie Gift."
„Bin nicht genug, bin nur ein Kreis,
ein Kreis, den Frau, den nie ein Mann —."
Er weinte dann. Er tat es leis',
„wohl einfach niemals lieben kann."
„Was kann ich tun?", verzweifelt schrie
der Kreis sich an: War wie zuvor.
„Ich kann es nicht! Ich werde nie
ein Rechteck", stiegs von ihm empor.
Er schnitt, er tats; gelang ihm nicht.
die Form blieb gleich, blieb ihm bekannt.
Und Tränen zierten sein Gesicht;
all das im hübschen Rechteckland.
Ja, ausweglos sein Leben war.
Als Kreis geboren; unförmig.
War rund, einmalig, das ist wahr,
sein Schicksal traf ihn jämmerlich.
Und schmerzerfüllt im Rechteckland
versuchte Kreis, er selbst zu sein.
Er schaffte es und war bekannt
als jemand der war stets allein.
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