Neue Wege, alte Wunden

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Ich sah auf die Uhr. 13:50. Schnell zog ich mir eine lockere Jogginghose und ein T-Shirt an. Meine Mutter war vor ihrer Abreise noch für mich shoppen gewesen, wofür ich ihr sehr dankbar war. Schon der Gedanke daran, mich einhändig in eine Leggings quetschen zu müssen, ließ mich schmunzeln. Das hätte bestimmt witzig ausgesehen.

Es klopfte an der Tür, und Jessy trat lächelnd ein. Ich freute mich wirklich sehr, sie zu sehen, und ging langsam auf sie zu, um sie herzlich zu umarmen. "Danke, dass du da bist", flüsterte ich ihr ins Ohr. "Natürlich, ich freue mich auch, dich zu sehen", antwortete sie. "Lass uns rausgehen", schlug ich vor.

Als wir in den Grünanlagen des Krankenhauses ankamen, fragte Jessy mich, wie es mir ging. "Es geht", sagte ich. "Die Kopfschmerzen nerven, aber die anderen Schmerzen halten sich in Grenzen." Jessy lächelte: "Das klingt schon besser."

Aber ich merkte, dass sie noch etwas bedrückte. "Jessy, was ist los? Ich sehe doch, dass dich etwas belastet. Auch wenn ich mich nicht an unsere gemeinsame Vergangenheit erinnere, kannst du immer mit mir reden", sagte ich und sah ihr in die Augen. Sie wich meinem Blick aus und antwortete leise: "Alles in Ordnung. Es ist nur... schwer für mich. Richy, mein bester Freund, war der Mann ohne Gesicht. Und dann hat er sich auch noch umgebracht. Ich hätte so viele Fragen an ihn gehabt. Warum? Warum hat er uns das angetan? Er hätte doch mit uns reden können."

Ich sah sie mitfühlend an. "Ich verstehe das auch nicht. Alles, was du mir über ihn erzählt hast – wie er uns geholfen hat – das ergibt keinen Sinn. Kannst du mir erzählen, was an diesem Abend genau passiert ist?"

"Dann lass uns da drüben auf die Bank setzen", schlug Jessy vor und deutete auf eine Bank am Teich. Als wir uns setzten, begann sie zu erzählen. Sie beschrieb den Moment, als ich im Gruppenchat ankündigte, nach Duskwood zu fahren, und wie sie und die anderen mich vergeblich davon abhalten wollten. Dann berichtete sie, wie die Verbindung abbrach: "... du hast Lilly noch gesagt, sie solle die Polizei rufen. Dann war plötzlich nur noch ein Rascheln und Röcheln zu hören. Ich glaube, er wollte dich erwürgen – so klang es zumindest", beendete Jessy die Geschichte und senkte ihren Blick.

"Manchmal dachte ich sogar, er hätte sich in dich verliebt", fügte sie nachdenklich hinzu. Ich sah sie geschockt an. "Wie kommst du darauf?" Jessy hob ihren Blick. "Ich weiß nicht genau. Er war bei dir immer anders. Einmal sagte er mir sogar, dass er dich sehr gerne hat und dass wir zusammen mit dir die Wahrheit ans Licht bringen würden." Tränen liefen ihr über das Gesicht. "Ach, Jessy", sagte ich tröstend und nahm sie in den Arm. "Irgendwann werden wir verstehen, warum all das passiert ist."

Wir saßen noch eine Weile am Teich und unterhielten uns über alles Mögliche: Hobbys, Familie, Arbeit...

In dieser Nacht träumte ich von Richy, wie er mich immer wieder würgte. Waren das tatsächliche Erinnerungen oder nur Vorstellungen, die sich aus Jessys Erzählungen speisten? Ich wusste es nicht.

Eine Woche später wurde ich endlich aus dem Krankenhaus entlassen. Jessy bot mir sofort an, vorerst bei ihr einzuziehen. Ich nahm ihr Angebot dankend an. So sparte ich mir die Kosten für ein Motelzimmer und war nicht allein. Am Vormittag holte mich Jessy mit ihrem Auto ab, und wir fuhren zu ihrer Wohnung. Sie hatte eine schöne, kleine Zweizimmerwohnung mit Balkon.

"Du hast es echt schön hier", sagte ich, nachdem ich mich umgeschaut hatte. "Danke, das ist meine erste eigene Wohnung. Ich wohne hier schon seit sechs Jahren", antwortete sie stolz. 
"Wie alt bist du eigentlich?", fragte ich neugierig. 
"24, und du?" 
"Ich bin vor zwei Monaten 30 geworden", antwortete ich. Jessy verschluckte sich fast an ihrem Eistee. "Du bist doch niemals 30! Ich hätte dich auf mein Alter geschätzt." 
Ich lachte. "Doch, aber ich werde ständig jünger geschätzt. Einmal, als ich mit 20 für meine Mutter Merci kaufen wollte, wollte die Kassiererin meinen Ausweis sehen. Sie hat sich tausendmal entschuldigt, als sie mein tatsächliches Alter sah." Wir mussten beide laut lachen.

"Du wärst auf jeden Fall ein guter Fang für meinen Bruder Phil. Er ist auch 30 und könnte mal eine reife Frau an seiner Seite gebrauchen. Bisher schleppt er nur junge Mädels ab. Mit 20 fällt man schneller auf seine Flirtereien rein. Du könntest ihm mal ordentlich Kontra geben", sagte Jessy grinsend. 
"Stell ihn mir vor, vielleicht finde ich ihn ja ganz süß", sagte ich zwinkernd.

Den Rest des Tages verbrachten wir damit, Serien zu schauen und abends Pizza zu bestellen. Ich fühlte mich unglaublich wohl bei Jessy und war ihr so dankbar, dass ich bei ihr wohnen durfte. Wenn ich mich fitter fühlen würde, würden wir zum Grimrock-Wasserfall fahren – das hatte sie mir versprochen. Aber ich wusste, dass das noch ein paar Tage dauern würde, denn der Weg vom Parkplatz zur Mine ist ziemlich steil. Das würde ich im Moment noch nicht schaffen.

Am nächsten Tag schlug Jessy vor, dass wir abends in die Bar Aurora zu ihrem Bruder Phil gehen könnten. 
"Sehr gerne, aber dann musst du mir in eine vernünftige Hose helfen. Mit Jogginghose kann ich schlecht in eine Bar gehen", sagte ich lachend. 
"Das bekommen wir schon hin", erwiderte Jessy grinsend. 
"Super, aber erst gehe ich duschen. Danach kannst du mich in die Hose prügeln." Wir mussten beide lachen.

Ich ging ins Bad, zog meine gemütlichen Klamotten aus und stieg unter die Dusche. Das warme Wasser tat meinem geschundenen Körper gut. Ich hatte immer noch überall blaue Flecken, aber sie verblassten von Tag zu Tag. Meinen Arm mit der Schiene hatte ich in einen Müllbeutel gewickelt, damit er nicht nass wurde. Mir graute jetzt schon davor, die Schiene irgendwann abnehmen zu müssen. Wer schon mal länger einen Gips oder eine Schiene getragen hat, kennt diesen unangenehmen Geruch. Einfach ekelerregend. Aber das Gefühl, wenn endlich wieder Luft an die Haut kommt und man sich kratzen kann, ist einfach unbeschreiblich. 
In einer Woche sollte ich zur Kontrolle ins Krankenhaus, um zu sehen, ob die Schiene abgenommen werden konnte. Die Platten und Schrauben, die meinen Knochen zusammenhielten, würden erst in etwa einem Jahr entfernt werden. Aber diesen Ablauf kannte ich schon von meinem alten Mittelhandknochenbruch aus der Schulzeit. Damals hatte ich mir den Knochen bei einem Sturz von einer Bank gebrochen, als wir herumalberten. Zum Glück war alles komplikationslos verheilt.

Nach dem Duschen rief ich nach Jessy, damit sie mir beim Anziehen helfen konnte. Die Unterhose bekam ich noch allein an, aber beim BH scheiterte es schon. "Ich bin so ein Invalid!" jammerte ich. Ich hasste es, so unselbständig zu sein. 
"Was möchtest du denn anziehen?", fragte Jessy mit einem amüsierten Lächeln. 
Ich zeigte ihr meinen schlichten, schwarzen BH, eine schwarze Jeggings und meine dunkelblaue Bluse mit rundem Ausschnitt. 
"Warum musst du auch so eine enge Hose anziehen?" lachte sie. 
"Ich habe nichts anderes, außer der Jogginghose, was locker sitzt. Und ich liebe enge Hosen einfach", antwortete ich trotzig. 

Nachdem Jessy mir beim Anziehen geholfen hatte, föhnte ich meine Haare und schminkte mich dezent. Ich schminkte mich eigentlich nur, wenn ich wegging, und selbst dann hielt ich es immer eher natürlich. Ich mochte es, so wenig Make-up wie möglich zu tragen.

Jessy kam ins Bad und machte sich ebenfalls fertig. "So, ich glaube, wir können los", sagte sie und musterte mich. "Phil wird ausflippen, wenn er dich sieht. Du bist genau sein Typ", fügte sie grinsend hinzu. 
"Lass mich raten – du willst mich unbedingt verkuppeln, oder?" fragte ich lachend. 
"Vielleicht", sagte sie zwinkernd.

Wir fuhren laut Musik hörend und singend Richtung Aurora. Die Vorfreude auf den Abend wuchs mit jedem Kilometer.

Vergiss mich nicht - eine Duskwood StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt