Innere Zerrissenheit

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**Jakes Sicht**

Ich war die ganze Woche unterwegs, reiste von Ort zu Ort, in der Hoffnung, auf andere Gedanken zu kommen. Doch nichts half dabei, Lia zu vergessen. Immer wieder ertappte ich mich dabei, die Chats der anderen zu überprüfen. Vielleicht würden sie über Lia sprechen. Doch leider gab es nichts Interessantes.

Bis Samstagmorgen. Da las ich endlich ihren Namen im Gruppenchat ihrer sechs Freunde.

Lilly: „Guten Morgen. Hättet ihr Lust, heute Abend in die Aurora zum Karaokeabend zu gehen?“

Jessy: „Oh ja, ich frage mal Lia. Wir frühstücken gerade.“

Kurz darauf kam die nächste Nachricht.

Jessy: „Von uns aus passt es. Wir gehen gleich shoppen, damit Lia auch passende Kleidung hat 😉 Phil wird Augen machen, wenn er Lia in einem Kleid sieht.“

Ein stechender Schmerz durchfuhr mich, als ich das las. Eifersucht. Phil? Was hatte Lia mit Phil zu tun? Ich wünschte, ich könnte meine Gefühle einfach abstellen und sie vergessen. Aber dann traf ich eine impulsive, völlig verrückte Entscheidung. Ich musste sie sehen. Also fuhr ich nach Duskwood, zur Aurora.

Ich wartete eine Weile vor der Bar, bevor ich hineinging. Ich wollte nicht auffallen, also beschloss ich, zu warten, bis es voller wurde. Gegen 20 Uhr war die Bar gut gefüllt, und ich schlich mich hinein. In einer dunklen Ecke, weit entfernt von der Bar, suchte ich mir einen Platz. Und da sah ich sie – Lilly, Hannah, Thomas, Dan, Cleo, Jessy… und Lia. Lia. Mein Gott, war sie schön. Sie lachte gerade über etwas, das Dan gesagt hatte. Ihr Lachen – ehrlich, rein, und es ließ sogar ihre Augen strahlen. Endlich konnte ich sie in Ruhe ansehen. Beim ersten Mal, als ich sie gesehen hatte, war alles so hektisch, dass ich ihre Schönheit nicht richtig wahrgenommen hatte. Aber jetzt. Jetzt prägte ich mir jedes Detail ein.

Ich bestellte mir ein Getränk und versuchte, so unauffällig wie möglich Lia zu beobachten. Ich konnte einfach nicht aufhören, sie anzusehen. Warum war ich so dumm gewesen und geflohen, wie ein verängstigtes Kind? Vielleicht hätten wir es irgendwie hinbekommen. Vielleicht auch nicht. Mein Gefühlschaos brachte mich fast um den Verstand.

Plötzlich stand Lia auf und ging zur Bar. Zu Phil. Mein Magen zog sich zusammen. Sie sprach ihn an, und er drehte sich zu ihr um. Leider konnte ich nicht hören, was sie sagten, aber sein Blick sagte alles. Er hätte sie am liebsten sofort mit in sein Bett genommen. Und ich konnte es ihm nicht verübeln.

Lia boxte ihn spielerisch gegen den Arm, nachdem er etwas gesagt hatte. Sie sah so glücklich aus, als sie sich auf einen Hocker setzte und sich mit Phil unterhielt. Warum konnte ich sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie schien doch glücklich zu sein.

Nach einer Weile kam Jessy zu Lia und zog sie auf die Tanzfläche. Die beiden hatten offensichtlich viel Spaß. Sollte ich auch tanzen gehen, nur um in ihrer Nähe zu sein? Ich blieb sitzen. Ich war feige.

Als die Musik ruhiger wurde, gingen Jessy und Lia zurück zu ihrem Platz. Doch kurz darauf stand Lia wieder auf und ging zur Bühne. Hatte sie vor, zu singen? Sie unterhielt sich mit dem DJ, der dann in sein Mikrofon sprach: „Hey, Party People, die junge, hübsche Dame hier sucht einen Duett-Partner für *Shallow*.“

Ich sah mich um. Niemand reagierte. Puh, Lia, du hast dir da ein ziemlich anspruchsvolles Lied ausgesucht. Aber es war ein wunderschönes Lied, das musste ich zugeben. Der DJ sprach lauter: „Kommt schon, Männer, seid keine Feiglinge! Es geht hier um Spaß, nicht um Talent!“

Noch immer meldete sich niemand. Lia wurde sichtlich nervös, und ich konnte sehen, wie unangenehm ihr die Situation war. "Scheiß drauf," dachte ich. Ich stand auf und ging Richtung Bühne.

**Lias Sicht**

Der große, athletische Mann, der sich durch die Menge schob, erweckte sofort meine Aufmerksamkeit. Mein Herz klopfte schneller, als er auf die Bühne zukam. Ich fragte mich, ob er wirklich vorhatte, mit mir zu singen. Irgendwie schien er mir vertraut, aber ich konnte ihn nicht genau einordnen

Der Mann stand nun direkt vor mir, seine Präsenz füllte den Raum. „Ich hoffe, ich bin nicht zu spät“, wiederholte er, als er meine Verwirrung bemerkte. Ich starrte ihn für einen Moment an, bevor ich mich fasste und leicht nervös antwortete: „Nein, gar nicht! Bist du sicher, dass du das machen willst?“

Er nickte, und es schien, als würde er sich selbst davon überzeugen. „Ja, klar. Es ist ein schönes Lied.“ 

Der DJ grinste breit, als er uns beide ansah. „Na, das sieht doch gut aus! Also, Party People, hier kommt Shallow!“ Die ersten Töne des Liedes erklangen, und mein Herz hämmerte noch schneller in meiner Brust.

Der Mann trat neben mich ans Mikrofon, seine Nähe war beruhigend und gleichzeitig aufwühlend. Ich holte tief Luft und begann zu singen. Meine Stimme zitterte leicht vor Aufregung, doch sobald ich in den Song eintauchte, fühlte ich mich sicherer. Der Text floss aus mir heraus, und die Musik füllte die ganze Bar.

Als es zu seiner Strophe kam, überraschte er mich mit seiner tiefen, ruhigen Stimme. Sie passte perfekt zum Lied, und ich spürte, wie sich die Nervosität in mir löste. Es fühlte sich fast magisch an – als wären wir für einen Moment die einzigen beiden Menschen im Raum.

Als der Refrain kam, sangen wir gemeinsam, unsere Stimmen verschmolzen miteinander. Das Publikum schien diesen Moment ebenfalls zu genießen, einige sangen leise mit, während andere einfach nur begeistert zusahen.

Während des letzten Refrains wagte ich einen schnellen Blick zur Seite und bemerkte, dass er mich ebenfalls ansah. Da war etwas in seinen Augen, das mich tief berührte – eine Mischung aus Melancholie und Zuneigung, die ich nicht ganz verstand.

Als das Lied endete und der letzte Ton verklang, brach tosender Applaus los. Ich lächelte verlegen und sah zu meinem Duettpartner, der sich mit einem Lächeln verbeugte. Wir verließen gemeinsam die Bühne, und ich spürte eine merkwürdige Spannung in der Luft. Etwas an ihm ließ mich nicht los, obwohl ich ihn nicht einordnen konnte.

„Danke“, sagte ich schließlich, als wir die Treppe hinuntergingen. „Du hast mir echt den Abend gerettet.“

Er zuckte leicht mit den Schultern und antwortete: „Gerne. Du hast toll gesungen.“ Es war ein einfaches Kompliment, doch die Art, wie er es sagte, ließ mein Herz für einen Moment schneller schlagen.

„Ich bin übrigens Finn“, fügte er hinzu und streckte mir die Hand entgegen. Ich nahm sie und fühlte, wie warm und fest sein Händedruck war. „Lia“, stellte ich mich vor, obwohl er das wohl längst wusste. 

Er nickte, und für einen Augenblick schien es, als wolle er noch etwas sagen. Doch stattdessen ließ er meine Hand los und warf einen kurzen Blick in die Menge, bevor er sagte: „Vielleicht sieht man sich später nochmal.“

„Ja, vielleicht“, antwortete ich, noch immer etwas verwirrt von diesem unerwarteten Aufeinandertreffen. Wer war dieser Finn, und warum fühlte es sich an, als würde mehr hinter seinen Augen verborgen liegen, als er zeigte?

Als wir von der Bühne gingen, kam Phil auf uns zu, klatschte und meinte: „Wow, Lia. Das hätte ich nicht erwartet. Du warst großartig!“ Ich bedankte mich etwas verlegen, doch innerlich war ich stolz, dass ich mich getraut hatte. Der Abend war perfekt, und ich wusste, dass ich dieses Gefühl so schnell nicht vergessen würde.

Es war einer dieser Abende, die einem noch lange im Gedächtnis bleiben – mit guten Freunden, ausgelassener Stimmung und einem kleinen Schritt aus der Komfortzone.

Vergiss mich nicht - eine Duskwood StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt