o3. Taschenuhr

100 29 15
                                    

Ärmelkanal, 10. April 1912

Das sanfte Knarren des Schiffes und das Plätschern der Wellen gegen den gewaltigen Rumpf der Titanic waren die einzigen Geräusche, die die Stille der Nacht durchdrangen, während sie ihren Weg nach Queenstown fortsetzte, wo sie am Vormittag des nächsten Tages anlegen würde.

Der Ozean erstreckte sich unendlich vor ihnen, schwarz und spiegelglatt, als Louis und Harry das Promenadendeck der ersten Klasse betraten.

Der Abend war kühl, die Luft frisch und voller Salz, aber der Himmel war klar, und die Sterne funkelten wie winzige Diamanten über dem Horizont.

Louis führte Harry sicher durch die eleganten Korridore, bis sie auf das weitläufige Deck hinaustraten.

An den Wänden brannten Laternen und warfen ein sanftes, warmes Licht auf die Holzplanken, während die dunkelblaue Nacht über ihnen lag.

Hier war es ruhig, abgeschieden, die Stimmen der wenigen Passagiere, die noch draußen flanierten, nur als entferntes Murmeln zu hören.

„Beeindruckend, nicht wahr?", fragte Louis leise, während er seinen Blick über die Weite des Ozeans schweifen ließ.

Seine Hände ruhten locker in den Taschen seines maßgeschneiderten Anzugs, und er wirkte vollkommen entspannt, als gehörte dieser Ort ihm allein.

Harry dagegen fühlte sich unsicher.

Er war sich der Exklusivität dieses Moments nur allzu bewusst.

Als Passagier der dritten Klasse hatte er hier nichts zu suchen, und das Wissen darum ließ ihn nervös über die Schulter blicken, als er leise antwortete. „Ja, das ist es."

Die beiden gingen nebeneinander her, ihre Schritte hallten gedämpft auf den Planken wider.

Louis sprach, als sei es das Normalste der Welt. „Also, Harry, was führt Sie auf dieses prächtige Schiff? Außer Ihrer Musik, natürlich."

Harry warf ihm einen Seitenblick zu.

Louis sprach so leicht und ungezwungen, doch Harry spürte, dass er mit jedem Wort tiefer in seine Gedanken drang. „Ich... wollte schon immer nach Amerika. Vielleicht als Musiker in einem Orchester arbeiten. Ich dachte, auf der Titanic wäre der beste Anfang."

Louis nickte, als hätte er ihn genau verstanden. „Das ist ein guter Plan", erwiderte er. „Ein Mann wie Sie könnte es in Amerika weit bringen."

Er sah Harry an, und seine Augen glitzerten im schwachen Licht der Laternen. „Nichts kann schlimmer sein als Southhampton."

Ein fragender Ausdruck legte sich auf Louis' Gesicht. „Haben Sie denn gar nichts, was Sie in der Heimat vermissen würden?"

Harry zögerte. Die Frage brachte ihn aus dem Konzept. „Nein."

Louis blieb stehen und lehnte sich leicht an die Reling, während er Harry ansah.

Für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen, während der Wind um sie herum whte.

Louis' Blick war fest auf Harry gerichtet, als wolle er jede seiner Reaktionen beobachten.

Harry fühlte sich plötzlich entwaffnet, als würde Louis etwas in ihm sehen, das er selbst kaum verstand.

Er wandte den Blick ab und sah hinaus auf das Meer. „Was führt Sie nach Amerika?"

Louis lächelte. „Ich habe geschäftlich dort zu tun", erklärte er. „Ich weiß noch nicht, wie lange das dauern wird."

Harry nickte, und der Wind strich ihm sanft die braunen Locken aus dem Gesicht.

Sie gingen weiter, und der Raum zwischen ihnen schien kleiner zu werden, selbst wenn sie nicht sprachen.

TitanicWo Geschichten leben. Entdecke jetzt