o5. Ein Erbe

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Atlantischer Ozean, 11. April 1912

Als Louis Harry in die Gänge der ersten Klasse führte, blieb dieser abrupt stehen. „Wo gehst du denn hin?"

„Na, auf das Promenadendeck", antwortete Louis. „Wieso fragst du?"

Nach dem Missverständnis im Büro des Offiziers waren sie offiziell zum „Du" übergegangen.

Harry sah ihn einen Moment lang ungläubig an. „Hast du mal gesehen, wie ich aussehe?", fragte er und zeigte demonstrativ an sich herunter. „So kann ich doch hier nicht am hellichten Tag herumlaufen."

Louis zog die Augenbrauen zusammen. „Warum nicht?"

Einen Moment lang fragte der Pianist sich, ob er das wirklich ernst meinte. „Das ist die erste Klasse, schon vergessen?", erinnerte er ihn. „Und ich sehe definitiv nicht aus, als würde ich dort hingehören. Man wird mich doch sofort wieder rauswerfen."

Seine Wangen färbten sich rot vor Scham, weil er ganz genau wusste, wie bedauernswert er aussah. Eigentlich hatte ihm das nie etwas ausgemacht, aber jetzt, hier, war er in einer anderen Welt.

Louis dachte einen Moment lang darüber nach. „Dann nimm meinen Mantel", bat er, und als er Harry's Blick sah, seufzte er. „Dieses Mal wird dich schon niemand festnehmen."

Harry überlegte einen Moment lang, nahm dann allerdings den Mantel und knöpfte ihn so weit wie möglich zu, fuhr sich durch die Haare und klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen, um einigermaßen präsentabel zu wirken.

Louis grinste. „So genau sieht doch ohnehin niemand hin."

„Na, hast du eine Ahnung..."

„Es tut mir leid, dass du wegen mir in diese Lage geraten bist", sagte Louis schließlich, als sie an die frische Luft tragen.

Der salzige Geruch des Ozeans kitzelte Harry's Nase, und der Wind fuhr ihm sanft durch die braunen Locken.

„Bist du sicher, dass du noch mit mir gesehen werden willst?", Harry versuchte, es mit einem Lächeln zu sagen, doch die Unsicherheit in seiner Stimme verriet mehr.

Die beiden Männer waren so verschieden, und der Unterschied in ihrer Kleidung schien diesen Punkt zu unterstreichen.

Während Louis in seiner eleganten, dunkelblauen Jacke mit dem feinen Stoff perfekt in die Welt der Reichen passte, fühlte Harry sich in seinem schlichten, abgetragenen Outfit wie ein Fremdkörper.

Louis lächelte nur leicht und schüttelte den Kopf. „Ich mache mir nicht viel aus solchen Konventionen."

Es war eine einfache Aussage, die aufrichtiger nicht sein konnte.

Sie erreichten das Promenadendeck, das zu dieser Tageszeit nur von wenigen anderen Passagieren bevölkert war.

Die See erstreckte sich in allen Richtungen, ruhig und still, während das Schiff unaufhaltsam seinen Weg über den Ozean nahm.

Die großen Fenster gaben den Blick auf die weite Wasserfläche frei, und der Wind trug den salzigen Geruch des Meeres mit sich.

„Das hier ist... anders," sagte Harry und ließ seinen Blick über die luxuriösen Decks schweifen. Er war es gewohnt, den Tag in den engen, einfachen Räumen der dritten Klasse zu verbringen, wo die Menschen dicht an dicht lebten, umgeben von einfachen Holzbänken und schmalen Kojen. Hier oben schien alles in einer anderen Welt zu sein – sauber, großzügig, fast unwirklich.

Louis lächelte leicht und lehnte sich an die Reling. „Das hier ist für viele eine Illusion. Der Ozean ist für jeden gleich, egal, in welcher Klasse man reist."

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