Atlantischer Ozean, 11. April 1912
Harry saß auf einer der harten Holzbänke in den beengten Räumlichkeiten der dritten Klasse und starrte auf die kleine Tasse in seiner Hand, die kaum noch lauwarmen Tee enthielt. Sein bester Freund Niall, der ihm gegenüber saß, sah ihn mit schiefem Grinsen an und lehnte sich über den wackeligen Tisch. „Also, erzähl schon. Was ist passiert?"
Harry rieb sich die Schläfen und schnaubte leicht, als er sich an den Vorfall erinnerte. „Es war einfach nur ein Missverständnis. Ein Mantel, den ich versehentlich mitgenommen hatte – und dann die Uhr, die in der Tasche war. Die haben gedacht, ich hätte sie geklaut."
Niall hob überrascht die Augenbrauen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Der, den du gestern dabei hattest?", fragte Niall, „Und wessen Mantel war es?"
Harry zögerte, und er spürte, wie sein Freund ihn neugierig ansah. Schließlich seufzte er. „Es war Louis'."
„Louis? Der Typ aus der ersten Klasse?" Niall pfiff leise durch die Zähne und grinste breit. „Und du hast seinen Mantel und seine Taschenuhr genommen?"
„Es war ein Missverständnis!" protestierte Harry, während er die Tasse abstellte und Niall mit einem genervten Blick ansah. „Ich hab den Mantel nur aus Versehen behalten, nachdem er ihn mir am Abend zuvor geliehen hatte. Als ich ihn zurückgeben wollte, war die Hölle los."
Niall lachte leise und lehnte sich vor. „Und? Wie ist der Typ?"
Harry rieb sich über das Kinn und überlegte kurz. „Er ist... anders. Nicht so, wie man sich jemanden aus der ersten Klasse vorstellt. Er hat mich rausgeholt, als sie mich festgenommen haben. Er hätte ja auch einfach deinen Mantel nehmen und gehen können."
Niall hob eine Augenbraue. „Hm, klingt fast so, als hätte er ein Herz."
Er grinste schelmisch und fügte hinzu: „...oder vielleicht ein Auge auf dich geworfen?"
Harry spürte, wie ihm kurz die Hitze in die Wangen stieg, aber er winkte ab. „Jetzt hör schon auf damit. Er war einfach nur freundlich, das war alles."
„Schon klar," erwiderte Niall, sein Grinsen unverändert. „Aber du bist dir sicher, dass er nicht einfach nur nett zu dir ist, weil du die Unterhaltung bist, die ihm bei all dem Champagner und Kaviar fehlt?"
Harry schüttelte den Kopf, unsicher, wie er Nialls Worte einordnen sollte. „Ich kann dir nicht sagen, was er sich denkt. Aber ich habe das Gefühl, er versteht mich. Zumindest ein bisschen."
Niall schnitt eine Grimasse. „Wahrscheinlich", antwortete er, seine Stimme triefte vor Ironie. „Armes Kerlchen. Jeden Abend nur Kaviar, Champagner und beste Gesellschaft. Wie schrecklich."
Der Pianist verdrehte entnervt die Augen. „Das ist mit Sicherheit auch nicht immer leicht."
„Hat dir der Typ irgendwas gegeben?", wollte Niall belustigt wissen und warf sich auf sein Bett. „Seit wann kannst du solche Leute überhaupt leiden?"
„Er hat mir ja schließlich nichts getan", erwiderte Harry und zuckte die Schultern.
Niall fuhr sich über das müde Gesicht. „Bist du heute Abend wieder unterwegs?"
Harry nickte. „Ja. Wieder Dinner in der ersten Klasse. Ich soll spielen, solange die da oben ihre Mahlzeit genießen."
Niall lachte trocken. „Während wir hier unten unseren Brei essen. Das Leben ist wirklich ungerecht."
Harry konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, aber er war dennoch nervös. Der Abend davor hatte ihn aufgewühlt, und er fragte sich, wie es heute wohl werden würde.
Immerhin hatte Louis ihn nach dem Essen auf ein Glas Wein eingeladen.
*
Der Speisesaal der ersten Klasse erstrahlte erneut in seinem prachtvollen Glanz. Die Wände waren mit exquisiten Schnitzereien verziert, Kronleuchter hingen von der Decke, und der Raum war erfüllt von den sanften Gesprächen der Reichen und Berühmten. Das weiße Tischtuch leuchtete im Kerzenschein, und die Kellner bewegten sich lautlos zwischen den Gästen.
Harry saß am Flügel und beobachtete die Gäste. Der Abend davor hatte Spuren hinterlassen, und er konnte die Spannung in sich spüren, als er die ersten Töne anschlug. Er spielte eröffnete den Abend wieder mit Chopins „Nocturne in Es-Dur", das den Raum mit einer melancholischen Leichtigkeit erfüllte. Die Musik war für ihn ein Anker, etwas, das ihm half, seine Gedanken zu ordnen.
Als seine Finger über die Tasten glitten, hob er kurz den Blick – und dort, am Tisch, sah er Louis sitzen. Dieser hatte ihn ebenfalls bemerkt, und als sich ihre Blicke trafen, lächelte er leicht und hob kaum merklich sein Glas in Harrys Richtung. Es war ein Gruß, dezent genug, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, aber Harry wusste, was er meinte.
Harrys Herz schlug einen Moment schneller, und er senkte den Blick zurück auf das Klavier. Es war eine seltsame Spannung zwischen ihnen – etwas, das unausgesprochen in der Luft lag, während sie sich doch in völlig unterschiedlichen Welten bewegten. Und doch war da diese Verbindung, die selbst die groben und feinen Unterschiede zwischen ihren sozialen Schichten durchbrach.
Die Stunden vergingen, und als die Gäste ihre Plätze verließen und das Dinner sich dem Ende zuneigte, klopfte Harrys Herz schneller. Schließlich erhob sich Louis von seinem Tisch und ging in seine Richtung. Harry war nervös, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
„Wunderschön gespielt," sagte Louis, als er bei Harry ankam. Sein Blick war warm, und ein leichtes Lächeln spielte auf seinen Lippen. „Rot- oder Weißwein?"
Harry stand auf, griff sich seine Notenblätter und lächelte. „Rot. Definitiv."
Gemeinsam verließen sie den Saal, und die Gespräche der anderen klangen hinter ihnen ab. Louis führte Harry in einen großzügigen Saloon, dessen Inneres von Zigarrenrauch vernebelt war.
Der Raum war in warmes, gedämpftes Licht getauchty und einige Gäste saßen in den Sesseln und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen.
„Ich wollte mich noch einmal für gestern bedanken," begann Louis. „Es tut mir leid, dass du in so eine unangenehme Situation geraten bist."
„Es war nicht deine Schuld," antwortete Harry und zuckte mit den Schultern. „Ich hätte einfach besser aufpassen sollen."
„Das konntest du doch nicht wissen", entgegnete Louis und schüttelte den Kopf. „Abgesehen davon ist das auch gar nicht so wichtig. Ich bin einfach nur froh-"
„Warte", unterbrach Harry ihn. „Ich habe ihn immer noch. Unten, in meinem Zimmer."
Louis zog die Augenbrauen nach oben. „Aber du hast ihn doch heute Vormittag zurückgebracht."
Harry nickte. „Ja, das ist richtig. Aber du hast ihn mir geliehen, damit die Trottel auf dem Promenadendeck nicht sofort-"
Er unterbrach sich selbst und räusperte sich, als ihm auffiel, dass seine Wortwahl sich nicht gehörte. „Du weißt schon, was ich meine."
Louis lächelte ihn einen Moment lang an. „Wow", kommentierte er. „Wir sind wohl beide ziemlich verplant."
Harry grinste. „Das kann man vermutlich so sagen."
„Dann lass uns einfach noch ein paar Gläser Wein trinken, und anschließend gehe ich mit dir nach unten, um ihn abzuholen."
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Hallo Freunde, ich wünsch euch einen schönen Montag (🤮).
Ich hab's gestern nicht geschafft, was hochzuladen. Wir waren gestern den ganzen Tag unterwegs, und jetzt?
Kind krank, Mann krank, Helena krank.😂
Deswegen bekommt ihr es heute. :)
Ich bin schon gespannt, was ihr sagt❤️All the love,
Helena xx
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Titanic
FanfictionAuf der Titanic, dem größten und luxuriösesten Schiff der Welt, kreuzen sich die Wege zweier Männer aus vollkommen unterschiedlichen Welten. Louis, ein wohlhabender Erbe, reist in der ersten Klasse, voller Erwartungen auf ein neues Leben in New York...