o7. Genau der.

86 24 14
                                    

Atlantischer Ozean, 11. April 1912

Harry lehnte sich in seinem Sessel im gedämpften Licht des Salons zurück. Das leise Murmeln der wenigen verbliebenen Gäste mischte sich mit dem gedämpften Klirren von Gläsern und Besteck, während der Bordeaux, den Louis für sie bestellt hatte, mit jedem Schluck wärmer in seiner Kehle hinunterglitt.

Vor ihm saß Louis, den Blick entspannt auf Harry gerichtet, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass sie hier zusammen ein Glas Wein tranken.

„Es muss seltsam für dich sein, jeden Abend hier zu spielen," sagte Louis nach einer Weile und ließ sein Glas in der Hand kreisen. „Ein Pianist von deiner Qualität gehört auf eine Bühne, nicht in einen Speisesaal."

Harry zögerte kurz, seine Finger strichen unbewusst über den Rand seines Glases. „Es ist Arbeit," sagte er schlicht. „Und Arbeit ist schwer zu finden, wenn man aus der unteren Schicht stammt."

Es klang kälter, als er es meinte, aber Harry wusste nicht, wie er es anders formulieren sollte. Die Klassenunterschiede standen immer zwischen ihnen – so deutlich wie der Unterschied zwischen diesem warmen, luxuriösen Salon und den engen, schlichten Kabinen unten im Bauch des Schiffes.

Louis' Blick veränderte sich, ein Ausdruck von Verständnis trat in seine Augen. „Ich will nicht herablassend klingen. Ich bewundere das, was du tust. Es muss nicht einfach sein, in einer Welt zu leben, die einem kaum etwas gibt, während andere im Überfluss leben."

„Und du?" fragte Harry, fast schon trotzig. „Was hast du im Überfluss, Louis?"

Louis lachte leise, doch es klang bitter. „Geld. Einen Namen. Verpflichtungen, die mein Leben bestimmen." Er nahm einen weiteren Schluck Wein. „Das sind die Dinge, die mich umgeben. Aber sie geben mir nichts, was ich wirklich will."

Harrys Stirn legte sich in Falten. „Und was willst du?"

Louis lehnte sich zurück, als wolle er sich Zeit lassen, um nachzudenken. Seine Augen huschten über die Kristallgläser, die schweren Vorhänge und die polierten Möbel, bevor sie sich wieder auf Harry richteten. „Ich will die Freiheit, zu entscheiden. Entscheidungen über mein Leben, meine Zukunft, die Menschen, mit denen ich es teile. Das klingt wahrscheinlich lächerlich für jemanden, der um alles kämpfen muss, was er hat."

Harry schüttelte langsam den Kopf. „Es klingt nicht lächerlich. Freiheit ist auch das, wonach ich suche."

Für einen Moment herrschte eine fast fühlbare Stille zwischen ihnen. Das sanfte Rauschen des Schiffes, das die Wellen durchschnitt, die leisen Gespräche im Hintergrund – all das schien in den Hintergrund zu treten. Sie saßen einander gegenüber, zwei Männer aus völlig verschiedenen Welten, die beide nach etwas suchten, das in ihrem Leben nicht selbstverständlich war.

Vielleicht hatten sie doch mehr gemeinsam, als sie auf den ersten Blick vermutet hatten.

Louis war es schließlich, der die Stille durchbrach. „Du hast gesagt, deine Mutter hat dir das Klavierspielen beigebracht. Wie ist das passiert?"

Harry ließ das Glas in seiner Hand sinken und schaute einen Moment nachdenklich zur Seite. „Meine Mutter war eine außergewöhnliche Frau," begann er. „Wir hatten nicht viel, aber sie glaubte fest daran, dass Musik etwas ist, das man nicht nur hören, sondern fühlen muss. Also hat sie mir beigebracht, das Klavier zu spielen, solange ich denken kann. Für sie war es eine Möglichkeit, der Welt zu entkommen. Für mich... ist es dasselbe geworden."

Louis hörte aufmerksam zu, seine Augen konzentriert auf Harry gerichtet. „Und dein Vater?" fragte er vorsichtig.

Harry seufzte leise und zuckte mit den Schultern. „Er ist gegangen, als ich noch klein war. Meine Mutter hat meine Schwester und mich allein großgezogen. Sie hat hart gearbeitet, um über die Runden zu kommen, und ich... na ja, ich habe versucht, ihr so gut ich konnte zu helfen."

TitanicWo Geschichten leben. Entdecke jetzt