1o. Einen Verrückten

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Atlantischer Ozean, 12. April 1912

Der Gemeinschaftsraum der dritten Klasse war ungewöhnlich ruhig geworden, fast gespenstisch still. Harry und Niall saßen an einem der harten Holztische und schauten in die Leere. Die Situation hatte sie in eine unangenehme Zwangspause versetzt, und die Stunden verstrichen, ohne dass jemand wirklich wusste, was los war.

„Das ist doch nicht mehr normal," murmelte Niall und sah sich mit zusammengezogenen Augenbrauen um. Die Menschen, die sonst lachten und sich lauthals unterhielten, waren jetzt leise, die Gesichter ernst und besorgt.

Harry nickte nur. „Es zieht sich schon viel zu lange hin. Wenn wir nur endlich wüssten, was zur Hölle da los ist."

Niall schnaubte ungeduldig. „Wie lange soll das noch dauern? Es ist, als würde jeder auf den großen Knall warten. Man könnte meinen, wir warten auf unsere Hinrichtung."

Harry verdrehte die Augen angesichts Niall's wie immer sehr theatralischen Darstellung. Er antwortete nicht sofort, sondern spielte nervös mit der Tasse vor ihm. Seine Gedanken kreisten nur noch um einen Punkt: Die Zeit verstrich, und der Abend rückte näher. Das Dinner in der ersten Klasse war längst überfällig – wenn er es nicht bald schaffte, wäre die Chance für den Abend verloren.

„Hör zu," begann er schließlich und sah Niall an. „Wenn sie uns nicht bald Bescheid geben, gehe ich einfach. Ich werde nicht hier unten sitzen und warten, bis das Dinner in der ersten Klasse vorüber ist."

„Harry", zischte Niall mit zusammengepressten Zähnen, „Wenn sie dich erwischen – was, wenn sie dich wirklich für krank halten? Oder schlimmer noch, für einen Verrückten, der einfach nach oben rennt?"
Niall schüttelte den Kopf und versuchte, seinen ungewöhnlich impulsiven Freund zur Vernunft zu bringen.

Harry aber zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Wahl, Niall. Ich brauche das Geld, und ich..." Er hielt kurz inne und sah seinen Freund mit einem Anflug von Verlegenheit an.

Niall lehnte sich zurück und seufzte schwer. „Ach, Harry. Dich hat es wirklich erwischt, was?"

Als Harry ihm nicht antwortete, dachte er einen Moment lang nach. Harry war im Grunde kein Mensch, der sich wissend in Schwierigkeiten begab, ganz im Gegensatz zu ihm selbst. „Na gut. Aber wir müssen vorsichtig sein. Pass wenigstens auf dich auf. Du weißt, die Leute aus der ersten Klasse sehen uns nicht gern."

Ein humorloses Lächeln huschte über Harrys Gesicht. Am liebsten hätte er die ganze Einrichtung auf diesem verdammten Schiff kurz und klein geschlagen. „Ich bin mir dessen mehr als bewusst."

Die Minuten verstrichen weiter, und schließlich hörten sie Schritte im Gang. Eine Gruppe von Offizieren ging durch den Raum, sie sprachen leise miteinander und notierten etwas auf Klemmbrettern. Einer der Männer, ein junger Offizier mit strengem Gesichtsausdruck, schien sich die einzelnen Passagiere genau anzusehen, bevor er sich wieder den Notizen zuwandte.

Dann endlich, nach einer quälenden Ewigkeit voller banger Erwartung, trat ein anderer Offizier nach vorn und rief laut: „Wir haben den Verdacht ausräumen können. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Es handelt sich nicht um Typhus, sondern um Fälle von Seekrankheit und einfache Erkältungen."

Erleichterung breitete sich wie ein Lauffeuer im Raum aus. Die Menschen begannen zu murmeln, zu lachen, einige klopften sich gegenseitig auf die Schulter. Harry atmete tief durch. Er beobachtete, wie Niall entnervt die Augen verdrehte und sich fragte, wofür das ganze Theater nun eigentlich gut war und dass er das doch gleich gesagt hatte - und ausnahmsweise musste Harry ihm dabei Recht geben.

„Niall... ich muss gehen," sagte er rasch und sprang auf.

Niall grinste breit. „Na dann, mein Freund, lauf! Der feine Herr in der ersten Klasse wartet sicher schon ungeduldig."

Harry verdrehte ein weiteres Mal die Augen und eilte zum Ausgang. Die Chancen standen gut, dass er es zumindest fast pünktlich schaffen würde – auch wenn das Dinner schon begonnen hatte.

Inzwischen saß Louis im prunkvollen Speisesaal der ersten Klasse, umgeben von den besten Gesellschaftskreisen des Abends. Der Saal war gefüllt mit Menschen, die in edle Seide und schweres Brokat gekleidet waren, das Klirren von Kristallgläsern mischte sich mit leiser Konversation und gedämpftem Lachen. Doch die Luft trug eine leichte Spannung mit sich – ein leises Raunen zog durch den Raum, als der Abend voranschritt und die angekündigte Klaviermusik ausblieb.

Louis blickte immer wieder zur Tür. Er hatte sich den Abend mit Musik und einem Glas Wein in Harrys Gesellschaft vorgestellt, hatte sich darauf gefreut, ihn wiederzusehen und ihr Gespräch fortzuführen. Doch der Platz am Flügel blieb leer, und langsam wich die Vorfreude einem Hauch von echter Sorge.

„Wissen Sie, wer heute Abend der Pianist sein soll?" Die fragende Stimme eines älteren Herrn neben ihm unterbrach seine Gedanken. Louis wandte sich ihm zu und versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen.

„Ich weiß es nicht," sagte Louis und bemühte sich um ein höfliches Lächeln. „Ich denke, er wird sicher bald hier sein."

Der ältere Mann runzelte die Stirn. „Nun, ich hoffe, dass Sie recht haben. Es ist schließlich eine Schande, das Dinner ohne angemessene Musik zu beginnen. Die White Star Line sollte sich wirklich um eine zuverlässigere Besetzung kümmern."

Louis' Kiefer spannte sich an. Er wusste, dass die Gäste der ersten Klasse ein hohes Maß an Perfektion erwarteten, doch die spitzen Bemerkungen über die Abwesenheit der Musik störten ihn mehr, als er zugeben wollte. Er dachte an Harry, an seine leuchtenden Augen und die Leidenschaft, mit der er gespielt hatte. Dieser Abend war für ihn nicht einfach ein weiterer Auftritt – es bedeutete ihm wirklich etwas. Und es bedeutete auch Louis etwas, das war ihm nun klar.

Der Kapitän, der selbst beim Dinner anwesend war, schien die Stimmung ebenfalls zu bemerken. Er räusperte sich und schob seinen Stuhl zurück, um zu den Gästen zu sprechen. „Meine Damen und Herren, wir entschuldigen uns für die Verzögerung der musikalischen Begleitung. Leider kam es zu einem Missverständnis, das wir jedoch schnellstmöglich beheben."

Einige der Gäste nickten, andere tauschten skeptische Blicke aus. Louis spürte, wie sich die Anspannung in ihm löste – zumindest würde die Musik bald einsetzen, und mit ein bisschen Glück würde er Harry vielleicht bald doch noch sehen.

Während die Gäste unruhig ihre Plätze wechselten und mit dem Essen fortfuhren, hörte man plötzlich gedämpfte Schritte hinter den großen Türen zum Speisesaal. Der Butler, der den Zugang zum Raum überwachte, trat zur Seite, und Harry kam leicht außer Atem und in seinem besten Anzug in den Saal, richtete die rote Krawatte und nickte einigen Gästen zu, die ihre Blicke neugierig auf ihn hefteten. Seine Wangen hatten von der Anstrengung, alle Treppen möglichst schnell nach oben zu steigen, eine leicht rötliche Färbung angenommen."

Die Gesichter wandten sich ihm zu, als er den Raum betrat und langsam zum Flügel schritt. Einige Gäste betrachteten ihn missbilligend, doch Louis konnte die Erleichterung nicht verbergen, als er Harry sah. Sein Blick fing den von Louis auf, und für einen Moment schien die Welt um sie herum zu verschwimmen.

Liam klopfte ihm brüderlich auf die Schulter. „Sieht ganz danach aus, als hättest du das Glück auf deiner Seite."

Ohne ein Wort zu verlieren, setzte sich Harry ans Klavier, legte seine Hände sanft auf die Tasten und begann, die ersten Töne zu spielen. Der Raum wurde sofort stiller, das Klirren der Gläser verebbte, und die Aufmerksamkeit richtete sich auf die Musik, die den Raum erfüllte. Die sanften, vertrauten Klänge hüllten die Anwesenden in eine warme Atmosphäre, und Harry spielte mit einer Leidenschaft, die Louis fast den Atem nahm.

Louis beobachtete ihn aus der Ferne, ein feines Lächeln spielte auf seinen Lippen. Die Musik schien Harrys ganzer Seele zu entspringen, und sie transportierte etwas Vertrautes und doch Sehnsüchtiges – etwas, das zwischen ihnen unausgesprochen in der Luft lag.

Als Harry sein erstes Stück beendet hatte, brach ein verhaltener Applaus aus. Einige Gäste schienen beeindruckt, andere weniger. Doch das war in diesem Moment nebensächlich. Für Louis zählte nur der Blick, den Harry ihm über den Flügel hinweg zuwarf.
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Hallo Freunde 🤍
Tut mir leid, dass das Kapitel erst heute kommt. Hab den Feiertag gestern verplant 😅 Ich hoffe, das Kapitel hat euch trotzdem gefallen.🤍

All the love,
Helena xx

TitanicWo Geschichten leben. Entdecke jetzt