11. Absolut glaubwürdige Geschäftsmänner

80 25 16
                                    

Atlantischer Ozean, 12. April 1912

Der Speisesaal der ersten Klasse leerte sich langsam, das leise Klirren von Porzellan und das Murmeln gedämpfter Gespräche ebbten ab, während die Gäste sich erhoben und nach einem reichhaltigen Dinner zu ihren Kabinen zurückkehrten. Die letzten Klänge des Abendprogramms verstummten, und Harry, der für den heutigen Abend nachträglich zugelassen worden war, schloss das Klavier mit einer sanften Berührung. Kaum hatte er sich abgewandt, da bemerkte er Louis' Gestalt, die im dämmrigen Licht des Saals auf ihn zukam. Louis' Gesicht spiegelte eine Mischung aus Neugier und einem Hauch von Verlegenheit wider.

„Harry," begann er zögernd, ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen, „Wo warst du denn so lange? Ich habe mir schon Sorgen gemacht."

Harry erwiderte das Lächeln und nickte langsam. „Es gab einen Krankheitsverdacht in der dritten Klasse. Wir durften das Deck nicht verlassen, bis er wieder ausgeräumt war."

„Ein Missverständnis also?"

„Ja" rollte Harry mit den Augen. „Mal wieder."

„Scheint, als hättest du ein Händchen für solche Dinge", scherzte Louis. „Wie wäre es mit einem guten Whiskey? Ich glaube, wir haben beide genug von Missverständnissen."

Er sah Harry auffordernd an, und als dieser nach kurzem Zögern zustimmte, führte Louis ihn aus dem Speisesaal und durch die eleganten Korridore zum Raucherzimmer der ersten Klasse, wo sich mittlerweile nur noch wenige Gäste aufhielten. Ein Kellner begrüßte sie und brachte ihnen bald zwei Gläser Brandy.

Sie setzten sich in eine ruhige Ecke, und für einen Moment genossen sie die Stille, die sich angenehm über das leise Murmeln der letzten Gäste legte. Louis nippte an seinem Glas, und dann trafen sich ihre Blicke.

„Was war los?", erkundigte Louis sich also. „Du hast erzählt, es gab einen Krankheitsverdacht auf den unteren Decks?"

Harry verdrehte bei der Erinnerung an seinen Tag die Augen. „Ja", bestätigte er. „Wir mussten uns alle untersuchen lassen und durften das Deck nicht verlassen - nur um dann gesagt zu bekommen, dass die betroffenen Personen seekrank waren."

Louis schüttelte schnaubend den Kopf. „Was für Idioten."

Harry musterte ihn, die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. Irgendwie hatte er nicht erwartet, dass Louis auch ausfallend werden konnte. Es bildete einen so starken Kontrast zu seinem gepflegten, gesammelten Äußeren. „Das kann man wohl sagen."

Louis nickte und leerte sein Glas. „Das ist eine Unverschämtheit."

Harry hielt seinem Blick stand, überrascht von der Direktheit und der Tatsache, dass er noch nicht einmal das Gesicht verzog, als er den Brandy in einem Zug herunterspülte. „Sicherheit geht vor", zuckte er also die Schultern und nahm ebenfalls einen Schluck aus seinem Glas. „Da verbringe ich lieber einen ungewissen Nachmittag mit einem wütenden Niall im Gemeinschaftsraum."

Louis schmunzelte. „Ich kann ihn mir bildlich vorstellen", grinste er. „Ich bin mir sicher, die Offiziere haben Einiges zu hören bekommen."

Harry spürte, wie die Erinnerung ihm ebenfalls ein Lächeln auf die Lippen zauberte. „Er hat sie beleidigt."

Die Antwort des Pianisten überraschte Louis nicht im Geringsten. „Ich wäre zu gern dabei gewesen."

Eine sanfte Stille senkte sich über sie, und die Stimmung zwischen ihnen veränderte sich, wurde vertraulicher, fast greifbar. Louis musterte Harry nachdenklich, als hätte er etwas entdeckt, das ihm bisher verborgen geblieben war.

„Was?" fragte Harry und hob eine Augenbraue.

„Nichts." Louis lächelte, sichtlich verlegen. „Spielst du morgen Abend auch?"

Harry lächelte zurück, und für einen Augenblick verlor sich die Distanz zwischen ihnen. „Nein", antwortete er und schüttelte den Kopf. „Morgen Abend habe ich frei."

Auf Louis' Gesicht legte sich ein Ausdruck, den er nicht sofort deuten konnte. „Dann kommt doch zum Dinner", schlug er vor und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Harry zog irritiert die Augenbrauen zusammen. „Was?"

Louis zuckte die Schultern. „Du siehst aus, als hätte ich dir vorgeschlagen, vemeinsam über die Reling in den Atlantik zu springen."

Der junge Pianist blinzelte. Genauso fühlte sich Louis' Vorschlag auch an. „Wenn wir hier so aufschlagen, wird man uns rauswerfen und ich werde meinen Job verlieren."

„Schwachsinn", antwortete er. „Ihr kommt einfach vorab in meine Suite. Liam und ich werden absolut glaubwürdige Geschäftsmänner aus euch machen."
____________
Hallo Freunde 😅
Ich wünsche euch ein schönes Wochenende!🤍 Wir haben's mal wieder geschafft. Wurde auch Zeit.

Na, was sagt ihr zum Dinner in der ersten Klasse?😅

Ich bin gespannt auf eure Meinungen.🤍

All the love,
Helena xx

TitanicWo Geschichten leben. Entdecke jetzt