Kapitel 4: Kleiner Bruder

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„Soll ich ihn öffnen?" Mitsuri blickte mich mitfühlend an: „Irgentwann sicher. Willst du, dass ich dabei bin?" Ich beäugte den Brief, welcher heute Morgen von Senjuro kam, ängstlich: „Nein, geh ruhig." „Ich bin in der Nähe, okay?", Mitsuri gab mir einen Kuss auf die Wange und ging. Ich lief auf die Terrasse hinaus und setzte mich. Mein Rücken lehnte sich gegen einen Stützbalken. Langsam riss ich den Brief auf. Das Auseinanderfalten fiel mir schwer. Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich zu lesen begann:

Lieber Iguro!

Noch nie ist es mir so schwer gefallen, jemandem einen Brief zu schreiben. Wenn du diesen Brief je bekommst, dann wandle ich wahrscheinlich schon mit den Ahnen. Ich hoffe inständig, dass du überlebt hast. Es kann sein, dass wir nicht viel gemeinsam hatten oder nicht sehr oft etwas zusammen unternommen haben, aber ich möchte, dass du weißt, dass ich dich wirklich liebe. Auch wenn dein Leben nicht immer leicht war... Du musst in die Zukunft schauen! Nimm dir meinen Tod nicht so zu Herzen. Alles Leben stirbt. Aber auch alles Leben wird wiedergeboren. Niemand weiß, was die Zukunft bringt. Das Geheimnis des Schicksals. Bitte gib dich und die Menschen, die du liebst niemals auf. Vorallem Mitsuri nicht. Ihr braucht einander in dieser Welt. Wenn du Mitsuri siehst, dann sag ihr, dass ich es sehr genossen habe, mit ihr zu trainieren. Sie soll den Weg gehen, den sie für richtig hält. Versuch nicht zu sterben. Versprich es mir. Du musst so lange leben, wie du kannst, denn nicht alle haben diese Chance. Und wenn du selbst jemals Leben schenkst, dann pass auf dieses Leben auf, denn du bist einer der liebsten und einfühlsamsten Menschen, die ich kenne.

Dein kleiner Bruder Kyojuro


Ich ließ den Brief sinken und fühlte mich einfach nur leer. Irgentwann schluckte ich mühsam. Dann rann eine einzelne Träne über meine Wange, platschte auf meine Hand. Weitere folgten bis ich nur noch ein kleines Häufchen schluchzenden Elends war. Ich ballte meine Hand zur Faust. Wieso war das Leben so ungerecht!? Wieso erwischte es die liebsten Menschen immer zuerst? Kyojuro hatte nie etwas böses getan!? Im Gegenteil! Er war am glücklichsten gewesen, wenn er jemandem helfen konnte, hatte alle rechtschaffenen Menschen respektiert. Wieso... Wieso? Wieso!? Mir war speiübel, bei den vielen Tränen verschwamm alles vor meinen Augen. Mitsuri war von hinten an mich herangetreten. Sie ging vor mir in die Knie, setzte sich und zog mich in eine warme Umarmung. Mitsuri sagte nichts, war einfach nur da, während ich in ihre Schulter schluchzte. „Ich...", meine Stimme brach. „Schhhhh... Du musst jetzt nichts sagen, wenn du nicht willst. Das ist okay", flüsterte sie, strich mir eine einzelne Strähne aus der Stirn. Bei Kyojuros Tod hatte ich nichts gefühlt. Nichts, als seine Krähe die Nachricht überbrachte. Nichts, als Mitsuri bei unserem Treffen am Nachmittag danach in meinen Armen zusammengebrochen war. Noch immer nichts, als der Meister bei unserem nächsten Treffen darüber gesprochen hatte. Ich hatte mich einfach leer gefühlt. Ich hatte erst angefangen, mich elend zu fühlen, als ich Senjuro das nächste Mal gesehen hatte. Unser beider Bruder war tot. Eigentlich hatten Kyojuro und ich uns versprochen, ihn und ihren Vater zu beschützen, aber ich hatte erst zwei Monate nach Kyojuros Tod den Mut gefunden, dort aufzutauchen. Ich hatte mit Vorwürfen gerechnet, aber sie hatten mich wortlos in ihre Arme geschlossen. Seit seinem Tod war der Vater anders geworden. Er wirkte nun liebevoller mit Senjuro. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich Kyojuros Tod ausgesperrt hatte. Ein winziger Teil von mir hatte immer gedacht, ich würde Nachhause kommen und er wäre da. Aber er war nicht da. Er würde nie mehr da sein. Hatte ich ihm eigentlich je gesagt, wie viel er mir bedeutete? Langsam verebten die Tränen, ich fühlte mich nüchtern und ausgetrocknet. Seine Worte hallten in meinem Kopf wieder: „Du musst in die Zukunft schauen." Er hatte Recht. Ich musste in die Zukunft schauen. Denn wenn ich mich zu lange mit etwas längst vergangenen befasste, dann würde ich womöglich wieder jemanden verlieren.


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Sorry, Leute 🙃

Das Kapitel war jetzt etwas kürzer

Spring of ChangeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt