Kapitel 10: Mutter

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„Ich kann mich einfach nicht entscheiden!", Mitsuri raufte sich die Haare und fegte mit wütend glänzenden Augen alles Papier von unserem Tisch hinunter. Ich seufzte. Es war vielleicht einen Monat her, seit wir uns verlobt hatten und die Vorbereitungen waren trotzdem im vollen Gange. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, dass solche Vorbereitungen so stressig sein könnten. Blumen, Deko, alles musste organisiert werden. In dieser Zeit hatte Mitsuri kaum geschlafen. Sie steigerte sich für meinen Geschmack zu sehr in dieses Ding hinein. Manchmal saß sie noch bis spät Abends an den Notizen, immer öfters schlief sie am Tisch ein. Ich erkannte kaum die Schlafmütze Mitsuri wieder, welche sie einmal gewesen war. Zusätzlich bereiteten mir ihre Stimmungsschwankungen echte Sorgen. Sie ächzte: „Ich geh mich hinlegen. Bin echt müde." Ich atmete erleichtert aus: „Das ist ein gute Idee. Ich räume hier wieder auf." „Musst du echt nicht! Ich kann das selbst machen! Wirklich!", ihre Stimme überschlug sich fast, bei dem Versuch, es mir auszureden. Ich sah sie entschlossen und zugleich besorgt an: „Wieso bist du in letzter Zeit so darauf aus, mir die Arbeit abzunehmen? Du hast den Schlaf echt nötiger, als ich." „Nein, ich kann das selbst machen, schönen Dank auch", ihre Stimme klang quietschig. Ich rollte betont mit den Augen: „Meinetwegen, dann lass ich den Mist jetzt einfach so liegen." Von wegen! Natürlich würde ich aufräumen, sobald sie verschwand! Mitsuris Gesichtszüge entspannten sich wieder etwas und sie lief zur Treppe. Schließlich verschwand sie im obersten Stockwerk. Na endlich! Ich machte mich daran, die vielen Zettel aufzuheben und zu ordnen. So sah es doch schon besser aus. Dann ließ ich mich auf dem Sofa nieder. Mitsuris Zustand bereitete mir wirklich große Sorgen. Durch die Nachtschichten schien ihr der Appetit zu vergehen, ihre Augen wirkten müde und hatten viel von ihrem alten Glanz verloren. Sollte ich vielleicht mal mit ihr zu Kanao gehen? Sie würde ihr doch sicher helfen können... Ich entschied mich dafür, nach oben zu Mitsuri zu schauen und schlenderte die Treppe hoch. Ich wollte gerade in Klinke unseres Zimmers herunterdrücken, als sie schon von der anderen Seite her geöffnet wurde. Ich trat zurück, um meiner Verlobten nicht den Weg zu versperren, erstarrte aber im selben Moment. Sie war ungeheuer blass, lehnte sich kraftlos an den Türrahmen. Ihr Blick war leer auf den Boden vor meinen Füßen gerichtet. „Mitsu, was..." In diesem Moment tat sie einen Schritt nach vorne, strauchelte. Das eine Bein knickte bedrohlich zur Seite, sie stolperte und fiel. Shit! Ich konnte sie gerade noch auffangen. Mitsuri blieb schlaff in meinen Armen liegen. Also nahm ich sie behutsam in den Arm, befühlte ihre Stirn. Sie glühte regelrecht. „Wieso stehst du auf? Mit so einem starken Fieber sollte man liegen bleiben", flüsterte ich heißer. Hatte Mitsuri sich in letzter Zeit so dermaßen überanstrengt? Sie antwortete nicht, gab nur ein kehliges Husten von sich. Ich presste sich etwas fester an mich und stand auf, überwandt den Abstand zu dem Bett. Sie hatte ihre Augen geschlossen und wandt sich widerstrebend. Offensichtlich verspürte sie gerade Schmerzen. Ich legte Mitsuri vorsichtig ab und deckte sie zu. Dann kniete ich mich neben das Bett, strich ihr sanft über den Kopf: „Kann ich nasse Tücher und Medizin holen, ohne dass du wieder versuchst, aufzustehen?" Sie öffnete langsam die Augen: „Es geht schon wieder. Es war nur ein kleiner Schwächeanfall. Nichts, weiter...", ihre sowieso schon schwache Stimme brach. Ich lächelte traurig: „Deine Temperatur sagt was anderes. Schlaf ein wenig, bitte." Sie nickte sacht, schloss die Augen, drehte sich auf die ander Seite. Ich erhob mich und lief hinüber ins Bad. Nachdenklich öffnete ich die Schränke. Wieso hatte sie mir nicht gesagt, wie schlecht es ihr ging? War die Anstrengung in letzter Zeit wirklich zu viel gewesen? Ich ballte die rechte Hand zu einer Faust. Was für einen schrecklichen Partner gab ich denn bitte ab? Ich konnte nicht einmal den Zustand des wichtigsten Menschen in meinem Leben erkennen. Ich kniff die Augen fest zusammen. Ich wollte doch nie wieder einen Menschen verlieren! Dann hörte ich eine bekannte Stimme in meinem Gedächtnis: „Du kannst die Vergangenheit nicht beeinflussen, Iguro. Du kannst nur das Beste aus der Zukunft machen." Wer hatte das nochmal zu mir gesagt? Ich überlegte fieberhaft, aber es fiel mir beim besten Willen nicht ein. Bis schließlich die Erinnerungen zurückkamen:

Es war ein schöner Frühlingstag. Ich konnte damals nicht älter als zwölf Jahre alt gewesen sein. Ich saß in einem kleinen Raum an dem Bett einer Frau. Sie besaß schwarze Haare und blickte mich unverwandt mit ihren blutroten Augen an: „Iguro? Kommst du bitte mal her?" Ich sah zu ihr auf, konnte den liebevollen Blick in ihren Augen nicht ertragen. Ich wusste, dass sie sterben würde. Ich hatte ihr oft ihre Medizin gebracht. Doch sie sah mich mit so viel Liebe in den Augen an: „Bitte, Iguro." Ich nickte zaghaft und rückte ein Stück näher, bis ich so nah gekommen war, wie ich konnte. Ihre hübschen roten Augen sahen mich noch immer unverwandt an. Dann streckte sie mir eine Hand entgegen. Ich nahm sie zaghaft und... fand mich in ihren Armen wieder. „Du weißt, dass ich fast keine Zeit mehr habe, habe ich nicht Recht?" In dieser Stimme klang kein Vorwurf mit. Sie sprach weiter: „Iguro, du bist ein lieber Junge. Danke für alles, was du für mich und deine Brüder getan hast. Du warst wie ein dritter Sohn für mich und du weißt wahrscheinlich nicht, wie sehr ich dich liebe." Ihre Hand strich sanft über mein Haar. „Was dir in der Vergangenheit passiert ist hat dich nie davon abgehalten, zu lieben und das bewundere ich an dir. Danke, dass du ein großer Bruder für meine Söhne bist. Vorallem Kyojuro hat dich wirklich sehr gern. Bitte kümmere dich ein wenig um die beiden. Sie werden dich brauchen." Sie löste die Umarmung sanft und nahm mich an den Schultern: „Bitte gib dir nicht für alles die Schuld. Sie liegt nicht immer bei dir." Ich fühlte mich in diesem Moment leer, wieder würde ich einen Menschen verlieren. Sie drückte mich noch einmal fest an mich: „Danke, Iguro. Dafür, dass du nie aufgehört hast, zu lieben."

Ich öffnete langsam die Augen und schickte ein stilles Dankesgebet zu ihr hinauf. Danke, Mutter. Diese Erinnerung hatte ich bitter nötig gehabt!

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