Kapitel 21: Und wenn ich dafür töten muss

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Iguro

Die Nacht lag still über dem Land. Wie eine undurchdringbare Decke, welche mir langsam aber sicher die Luft zum atmen raubte. Das Buch, welches ich vorher noch fleißig studiert hatte lag nun still auf meinem Schoß. Welch Ironie, dass das letzte Buch, welches ich gelesen hatte ein Ratgeber für Atemtechniken war, welche mir heute kein bisschen helfen konnten. Langsam legte ich den Kopf in den Nacken und starrte an die Zimmerdecke. Ein seliges Schnarchen neben mir bestätigte, dass Mitsu schon wieder tief und fest schlief. Mein Blick wanderte zu der Uhr an der Wand und stockte. Zeit, um aufzubrechen. Also schlug ich die Decke zur Seite und stand auf. Meine Kleidung hatte ich natürlich angelassen und es war garnicht so leicht gewesen, sie vor ihr zu verstecken. „Es tut mir leid, Mitsu", flüsterte ich und strich sanft mit meinem Handrücken über ihre Wange. „Ich hoffe, dass du mir irgendwann verzeihen kannst." Schnell hauchte ich ihr noch einen Kuss auf die Stirn und verschwand aus dem Zimmer. Mit jedem zurückgelegten Meter von ihr weg fühlten sich meine Schritte immer schwerer an. Bevor ich endgültig das Haus verließ, legte ich noch schnell meinen Brief auf den Tisch. Ich hatte ihn im Laufe der Woche geschrieben und es gab so viel, was ich noch sagen wollte, dass er nun mehr als sieben Seiten umfasste. Trotzdem wusste ich, dass dieser Brief niemals wieder gutmachen konnte, dass ich mein Versprechen ihr gegenüber soeben gebrochen hatte. In meiner Brust keimte Schmerz auf. Ich konnte kaum die Kraft finden, unsere Haustür aufzudrücken. Schließlich atmete ich aber noch einmal entschlossen tief durch, ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen und schneite in die kalte Nacht hinaus.

Mitsuri

Ich wälzte mich im Bett herum, im verzweifelten Versuch, etwas Warmes zu ertasten. Normalerweise lag doch Iguro dort, wo ich nun mit der Hand über die Bettdecke strich. Ein Grummeln polterte durch meinen Körper, meine Augen öffneten sich flatternd. Iguro war wirklich nicht da und die Tür stand offen. „Kannst du wieder nicht schlafen?", murmelte ich und setzte mich auf. Es kam oft vor, dass Iguro nicht gut schlief, die Nacht dann lieber auf dem Dach mit Blick auf die Sterne verbrachte. Meine Kehle fühlte sich ausgetrocknet an. Normalerweise mochte ich den Sommer, doch die hohen Temperaturen setzten mir besonders in diesem Jahr zu. Sie zwangen mich dazu, fast durchgehend im Haus zu hocken oder den kurzen Weg zu unserem Teich zu laufen und stundenlang die Füße hineinbaumeln zu lassen. Alles in meinem Körper schrie nach Wasser und ich entschied mich schlussendlich dazu, dieser Bitte Folge zu leisten. Die ersten Schritte waren die reinste Hölle. Trotz der übermäßig heißen Sommertage meldete sich die anschließende Nacht so kalt, als hätten wir gerade Winter. Endlich trat ich in die Küche. Der Mond schien angenehm auf mein Gesicht, spiegelte sich in meinem Wasserglas, welches ich mir gerade einfüllte. Vielleicht sollte ich Iguro auf dem Dach doch noch etwas Gesellschaft leisten. Der runde Vollmond war viel zu schön, um sich diesen Anblick entgehen zu lassen. Wie in Trance schlenderte ich zu dem Esstisch hinüber und stellte das Wasserglas dort ab. Mein Blick glitt zur Seite... und ich erstarrte. Ein Brief, sorgfältig verschlossen und in Iguros Handschrift an mich adressiert lag auf dem Tisch. Ich hätte schwören können, dass die Temperaturen in diesem Moment zu den Minusgraden sanken. Mit zitternden Händen riss ich das Couvert auf, fegte es achtlos zur Seite und begann die ersten Zeilen zu überfliegen:

Es tut mir leid Mitsu. Alles. Wenn ich nur etwas früher den Mut gehabt hätte, dir das folgende zu sagen, dann hätten wir so viel mehr Zeit gehabt. Aber zuvor muss ich alles loswerden und mich entschuldigen, auch wenn das nichts wiedergutmacht. Es tut mir leid, dass ich dich angelogen habe. Dass ich sagte, es wäre alles gut, auch wenn es das nicht war. Dass ich dir so viel Kummer bereitet habe. Dass ich dich habe sterben lassen. Dass...

Weiter konnte ich nicht mehr lesen. Schon längst hatte sich ein großes Loch in meinem Körper gebildet, zerfetzte mein Herz in seine Einzelteile. Er war zu diesem Treffpunkt gegangen. Iguro bot sein Leben um unseres zu retten. Ein Schluchzen durchzuckte meinen Körper und ich versuchte verzweifelt, meinen Brechreiz zu unterdrücken. Langsam wanderte eine Hand vor meinen Mund. Die nächsten Sekunden zogen wie in dichten Nebel gehüllt an mir vorbei. Ich stand von dem Tisch auf, lief in eine bestimmte Richtung. Ich beschleunigte immer mehr. Erst im Flur hielt ich inne, um keuchend Atem zu holen. Schließlich starrte ich meinem Ziel entgegen. Das Einzige, was mich nun noch von ihm trennte war unsere Haustür. Ich sprintete auf sie zu, packte die Klinke, drückte sie hinunter. Nichts. Mein Gehirn erlitt einen Stillstand. Denn Iguro Obanai hatte für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich aufwachen könnte die Haustür abgeschlossen. Ein Schlüssel! Mein Blick flog zu der Anrichte, blieb an der leeren Schale hängen, in welcher normalerweise mein Haustürschlüssel auf seinen Gebrauch wartete. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich hämmerte noch ein paar mal verzweifelt mit der Faust gegen die Tür. Nein, nein, nein! Schließlich sank ich auf meinen Knien zu Boden und ließ meine Stirn gegen unsere Haustür knallen. Ich war hier hoffnungslos eingesperrt. Und irgendwo auf der anderen Seite trat Iguro gerade seinem Tod entgegen. Ein Zittern schüttelte mich und ich spürte, wie mir langsam Tränen in die Augen stiegen. Ein letztes Mal rammte ich kraftlos meine Faust gegen die Tür. Inzwischen tropften unentwegt Tränen nach unten auf meine Kleidung, durchnässten alles auf ihrem Weg. Mein Herz fühlte sich leer und kalt an. Verdammt! Fieberhaft überlegte ich. Die Terrassentür war einen Versuch nicht wert, sie ließ sich mit unserem Haustürschlüssel öffnen. Durch ein Fenster zu klettern... Jedes unserer Fenster im Erdgeschoss lag über irgenteiner Art von Strauch. Anders zu entkommen war auch keine Lösung. Meine körperliche Einschränkung erlaubte mir zurzeit keine Sprünge von Gebäuden oder Hechter aus Fenstern hinaus. Aber es musste doch eine Lösung geben! Denn immerhin hatte ich mir selbst geschworen, Iguro niemals alleine zu lassen. Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken und lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Wohnzimmerfenster. Eine Krähe – meine Krähe genauer gesagt - pickte unentwegt mit dem Schnabel gegen die Scheibe. Ich schlurfte kraftlos hinüber, öffnete das Fenster und ließ sie auf dem Rahmen landen. Sie begann sich hochkonzentriert das Gefieder zu putzen. Ich holte tief Luft. „Du musst sofort losfliegen! Es gibt nur eine Person, die Iguro jetzt noch aufhalten kann. Ich erkläre dir alles." Während ich alles wichtige mit bebender Stimme zusammenfasste, hob sich der Kopf der Krähe langsam und sie blickte mich starr aus ihren schwarzen Augen an. Nach meiner Endung schwang sie sich in die Lüfte und verschwand in die tiefe Nacht hinaus. Sie musste es um jeden Preis schaffen! Ich lehnte mich zurück und sah zu der Zimmerdecke empor. Körperlich war ich zwar in diesem Moment anwesend, doch geistig war ich bei Iguro, hoffte einfach nur, dass es nicht zu spät war.

Iguro

Kalte Nachluft zerzauste mir das Haar, als ich langsam einen Schritt nach dem anderen nach vorne machte. Grillen zirpten um mich herum im Feld, der Ruf einer Eule klang von weit her zu meinen Ohren. Alles an mir fühlte sich kalt an, nicht einmal Kaburamaru war in diesem Moment an meiner Seite. Ich hatte ihn nicht in Gefahr bringen wollen. Neben mir plätscherte unentwegt der Bach, welchem ich gerade stromabwerts zum Treffpunkt folgte. Ein lautes Rascheln lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Busch neben mir. Einige Sekunden verharrte ich an Ort und Stelle, versuchte, die Quelle des Geräusches auszumachen. Schlussendlich beließ ich es dabei, setzte meinen Weg fort. Von Weitem erkannte ich schon das kleine Wäldchen, es lag still da. Ich riskierte einen letzten schmerzlichen Blick zurück zu unserem Haus, welches sich schon in weiter Ferne befand. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Schon aus der Ferne bemerkte ich eine Gestalt, welche an einem der vielen Bäume lehnte.Doch im selben Moment, packte mich eine Hand an der Schulter. Alarmiert fuhr ich herum, begab mich in Abwehrhaltung. „Woah, woah, woah! Ich bin's doch nur." Giyus blaue Augen blickten mich verwirrt an. Ich zog scharf die Luft ein: „Was zum Teufel machst du hier?" „Diese Frage könnte ich dir auch stellen. Es ist mitten in der Nacht." „Ich muss weiter", murmelte ich und wollte an ihm vorbei, als... Giyus Hand schnellte vor und er verpasste mir ein Ohrfeige. Ich spürte, wie der Geschmack von Blut sich in meinem Mund verbreitete. „Was ist nur los mit dir?!", fauchte Giyu scharf. Normalerweise war ich so einen Tonfall nicht von ihm gewohnt, doch er schimpfte einfach weiter: „Du bist erst seit vielleicht einem Monat verheiratet und gehst auf eine Kamikazetour, die zu 90 % den Tod bedeutet! Bedeuten dir Mitsuri und euer Kind garnichts?! Bist du wirklich so versessen darauf, zu sterben?!" Diese Anschuldigungen waren wie ein Stich ins Herz. „Ich tue es, um sie zu beschützen! Gerade weil ich sie so liebe!" Giyus Gesichtsausdruck wurde sanfter und er gab mir versöhnlich die Hand: „Ich weiß, mein Freund... Aber denkst du nicht, dass das auf Gegenseitigkeit beruht? Denkst du, dass Mitsuri nach deinem Tod einfach so weitermachen könnte wie zuvor? Dass du ihr egal bist? Was denkst du, wieso ich hier bin? Sie hat mir völlig aufgelöst eine Krähe geschickt, weil du sie allen ernstes Zuhause eingesperrt hattest." Ich stellte mir vor, wie Mitsu den Brief sah und bemerkte, dass ich sie eingesperrt hatte. Schmerz pochte in meinem Körper. „Ich... ich..." Mein Freund sah mich nun mit mitfühlenden Augen an: „Ich weiß, dass du das tun musst. Aber ich werde wenigstens mitkommen und Rückendeckung spielen. Denn jetzt darfst du nicht sterben. Du musst für Mitsuri und euer Kind weiterleben. Stimmst du bei diesen Bedingungen zu?" Ich nickte, konnte ihm aber noch immer nicht in die Augen schauen. Also setzten wir uns zu zweit in Bewegung und irgendwann stieß ich ihm brüderlich den Ellenbogen in die Seite: „Wo hast du eigentlich gelernt, so erwachsen zu sein?" „Das hat mir ein guter Freund beigebracht", Giyu lächelte traurig, bevor er mich wieder mit seinen tiefblauen Augen anblickte und etwas fröhlicher grinste, „Sein Name ist Sabito."

Wir erreichten das Waldstück, meine Schritte wurden immer langsamer. Zum einen, weil ich in Gedanken nur bei meiner Familie und Freunden war, zum anderen, da der Trampelpfad vor uns immer mooriger wurde. Ich wandte mich an Giyu und lächelte ihn ermutigend an: „Bitte bleib hier in Deckung. Ich will alleine mit dieser Person sprechen." Mein Freund nickte, sichtlich unangetan von dieser Situation. Also tat ich noch einen tiefen Atmezug und trat in das Waldstück hinein. Die in die Baumstamm gelehnte Gestalt stand ruckartig auf und lief in meine Richtung. Ihr Gesicht war verschleiert unter einer Kapuze. Unter ihrem Mantel zog sie langsam eine Waffe hervor. Eine Schusswaffe... Sie richtete sie auf mich. Die Bedeutung dieser Geste war klar: Ich sollte mich nicht bewegen. Trotzdem rieht mir ein Impuls in meinem Körper, ich solle mich bewegen, sollte einfach sterben. Dies war doch das Schicksal, welches für mich vorausgesehen war. Ich schüttelte diese Gedanken ab. Denn ich musste nachhause zurückkehren. Um jeden Preis. Selbst, wenn ich dafür wieder töten musste.

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⏰ Letzte Aktualisierung: 3 days ago ⏰

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