Kein Klischee, nur Leidenschaft

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Ich war schon viel zu spät dran. Das war das letzte Mal, dass Herr Carsten ein Auge zudrückt, dachte ich mir. Tino Carsten ist mein Vorgesetzter, Co-Trainer der Spieler und irgendwie auch eine Bezugsperson für mich geworden. Aber was sollte ich tun? Der Verkehr zwischen meiner Uni und dem BVB-Gebäude ist einfach unberechenbar. Leider kam es öfter vor, dass ich nach der Uni zu spät zur Arbeit kam, und jedes Mal schwor ich mir, es würde nicht wieder passieren. Doch heute war einer dieser Tage.

Nach der letzten Vorlesung rannte ich zum Parkplatz, stieg in mein Auto und startete den Motor. Mein Auto war alles andere als beeindruckend – im Gegenteil, es sah aus, als wäre es schon einige Jahre durch die Hölle gegangen. Der Lack blätterte ab, der Innenraum war voll mit alten Uni-Skripten und leeren Kaffeebechern. Aber das war mir egal, es tat, was es sollte: Es brachte mich von A nach B.

Während ich fuhr, schaute ich jede zweite Minute auf die Uhr. „Komm schon, komm schon, na los, mach schon," murmelte ich verzweifelt vor mich hin. „Geç kaldım, hadi, hadi!" Die rote Ampel schien mich persönlich sabotieren zu wollen, aber gerade, als ich dachte, es würde noch länger dauern, schaffte ich es, bei der nächsten Grünphase links in die Einfahrt zu biegen. Endlich! Ich war da, an dem Ort, an dem ich 20 Stunden die Woche verbrachte. Mein zweites Zuhause nach der Uni – mein Wohlfühlort.

Der Parkplatz vorm BVB-Gebäude war wie eine kleine Oase für mich. Neben meinem International Business Management Studium hatte ich hier meinen Werkstudentenjob im selben Bereich. Es war perfekt. Ich liebe es, hinter den Kulissen zu arbeiten, die sozialen Kanäle zu betreuen und an Projekten zu feilen, die dann Tausende Fans erreichen. Videos zu schneiden, Beiträge zu planen und den ganzen kreativen Prozess zu begleiten – es fühlt sich nie wie Arbeit an. Es ist, als könnte ich mich in meiner Arbeit verlieren und dabei etwas erschaffen, das die Fans genauso berührt wie mich.

Gerade als ich die Handbremse zog, sah ich schon Lukas. Er war ebenfalls Werkstudent hier und studierte Medien- und Kommunikation, nur war er ein Semester über mir. „Na, auch wieder zu spät dran?" fragte er grinsend und klopfte ans Fenster. Ich konnte nur seufzen und lachen.

Ich nahm meine Tasche und stieg aus dem Auto. Lukas wartete schon auf mich, und zusammen liefen wir zum Eingang. Ich spürte, wie sich mein Magen leicht verkrampfte, als ich daran dachte, dass ich gleich wieder Herr Carsten gegenüberstehen würde. Und da stand er auch schon – an der Rezeption, die Arme verschränkt, in seinem Trainingsanzug. Seine grauen Haare, wie immer, nach hinten gegelt, die Augenbrauen zusammengezogen. Der strenge Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er genervt war.

Ich muss zugeben, für sein Alter sah er echt gut aus. Gut, so alt war er auch nicht, 47, aber dennoch hatte er etwas Anziehendes an sich. Seine Ausstrahlung, diese Mischung aus Strenge und Fürsorge, machte ihn irgendwie faszinierend. Natürlich würde ich ihm das nie direkt sagen, außer vielleicht, wenn er mal wieder sauer auf mich ist – dann rutscht es mir manchmal raus, um ihn aufzuheitern. Aber heute war nicht der richtige Moment dafür.

„Wo bleibst du schon wieder?" fragte er mich auf Türkisch, was mich kurz zum Schmunzeln brachte. Es war seine Art, mich auf einer persönlichen Ebene zu packen, wenn er genervt war.

Herr Carsten redete jedes Mal Türkisch mit mir. Das hatte zwei Gründe: Zum einen hatte ihn seine Mutter früher verlassen, und seine Stiefmutter, mit der er aufgewachsen war, war Türkin. Zum anderen war auch seine Ehefrau Türkin. Daher sprach er oft Türkisch mit mir, und glaubt mir, er beherrschte die Sprache fast besser als ich, auch wenn man seinen Akzent stark raushörte. Es hatte etwas Vertrautes, wenn er so mit mir sprach, selbst wenn ich gerade in Schwierigkeiten war.

„Es tut mir leid, der Dozent ließ nicht locker. Er wollte unbedingt mit mir über die Bachelorarbeit reden, die ich nächste Woche abgeben muss," erklärte ich ihm schnell, in der Hoffnung, ein bisschen Verständnis zu erhaschen.

Von der Arbeit ins Herz 🏹Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt