Schritte kommen auf mich zu. „Carlie!" ruft eine Stimme durch den Regen. Ich starre auf den Boden und tue so als würde ich sie nicht hören. „Hey, alles okay?" Was für eine Frage. Ich fange an zu lachen. Mein Lachen klingt hysterisch, schrill und künstlich, deshalb höre ich schnell wieder auf. Aimee setzt sich neben mich. Ich schweige. „Was ist passiert? Ms Sterling sucht dich." sagt sie. „Hat sie dir das nicht erzählt?" frage ich ungläubig.
„Doch. Aber ich will es von dir hören." sagt sie leise. Sie wirkt mit einem Mal wieder so zerbrechlich, wie ich sie eigentlich kenne. Ich schaue nach vorne zum nächsten Gebäude. „Ich habe mich mit Alice geprügelt." sage ich. Ich weiß dass sie das eigentlich nicht hören wollte. Aber ich kann es ihr nicht erzählen. Und ich will es auch gar nicht. Nicht jetzt und auch nicht irgendwann anders. Aimee seufzt. „Okay. Du solltest zu Ms Sterling gehen. Sie ist drinnen und wartet auf dich."
Dann steht sie auf und geht. Das heißt ich muss mir eine Rede über mein fehlerhaftes Verhalten anhören, dass ich so etwas nie wieder tun sollte, dass sie es nicht fassen kann wie ich so etwas tun konnte und dass sie sehr enttäuscht von mir ist und was das für Folgen für mich nach sich zieht, dass sie meine Eltern benachrichtigen muss... Ich unterbreche meinen Gedankengang und stehe ebenfalls auf. Als ich die Tür, die ins Gebäude führt, aufmache, sitzt Ms Sterling schon auf einem Stuhl und schaut nach draußen. Sie blickt auf und lächelt mich traurig an.
Dass habe ich nicht erwartet. Unentschlossen stehe ich im Türrahmen, schaue abwechselnd sie, und den Stuhl neben ihr an. „Ähm... Hallo." stottere ich verunsichert. „Carlie bitte setzen sie sich." sagt Ms Sterling und deutet auf den Stuhl neben ihr. Ich folge ihrer Einladung und nehme auf dem Stuhl Platz. „Du bist dir hoffentlich im Klaren damit, dass das Folgen nach sich ziehen wird." sagt sie scharf. „Ja, es..." Beginne ich, werde aber von ihr unterbrochen. „Gut. Ich werde einen Brief an deine Eltern schreiben müssen, und wir können nicht außer Betracht ziehen, dass du die Berufspraxiswoche abbrechen musst." Ich starre sie ungläubig an. „Und was ist mit..."
Wieder unterbricht Ms Sterling mich. „Alice hat bereits gesagt, dass du angefangen hast sie zu schlagen und sie sich nur gewehrt hat. Erst habt ihr euch nur unterhalten und dann hast du plötzlich angefangen sie zu schlagen. Als wir die Tür aufgemacht haben, bist du aufgesprungen und weggerannt. Tut mir leid aber es steht nicht besonders gut für dich. Alice Eltern werden auch einen Brief nach Hause bekommen, aber sie steht nicht in Gefahr ihre Berufspraxiswoche abzubrechen. Aber Carlie ich verstehe wirklich nicht, wie du so etwas tun konntest. Du kommst mir eigentlich nicht vor wie ein Schlägertyp. Sonst bist du doch immer sehr ausgeglichen und ruhig." Ich schaue auf den Boden. Ich weiß dass das nicht hätte passieren dürfen.
Plötzlich war ich nicht mehr richtig ich selbst. Ich bin viel zu schnell ausgerastet und habe angefangen zu schlagen. Meine Eltern werden kein Wort mehr mit mir reden. Meine Selbstbeherrschung ist mir verloren gegangen, als Alice diese ganzen Sachen über mich gesagt hat. Ehrlich gesagt verstehe ich es selber nicht. In meinem Gehirn wütet ein einziges Chaos. Den einzigen Satz, den ich in dem ganzen Gedankenwirrwarr hervorbringe ist: „Alice hat mich provoziert." „Das kann sein, trotzdem hättest du dich beherrschen sollen. Wir hätten das Problem ganz in Ruhe klären können, wärst du nicht so außer Kontrolle geraten." sagt Ms Sterling ungeduldig.
Das klingt als wäre ich ein Monster, das bei einem Versuch die Vorsichtsmaßnahmen durchbrochen hat und nun auf der Flucht ist, hoch gefährlich für die Normalbevölkerung. Oder wie ein Bombe, die bei der Entschärfung hochgegangen ist. „Ich weiß." ist das Einzige was ich hervorbringe. Ms Sterling nickt. „Dir ist klar das so etwas nicht nochmal passieren darf?"
„Ja." sage ich mit brüchiger Stimme. In unserer Stadt wird so etwas hart bestraft. Wenn man Pech hat oder wenn man es wagt den Vorfall zu wiederholen, wird man vom Aufsichtsrat abgeholt und in ein Lager gesteckt. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Ich schlucke. „Ja." sage ich noch einmal. Sie werden mich nicht abholen. „Gut. Ich werde dir heute noch sagen, was des weiteren passieren wird. Am besten gehst du erst mal in dein Zimmer und packst deine Sachen. Dein neues Zimmer ist ein Einzelzimmer. 239." Mit zittrigen Beinen gehe ich nach oben und packe meine Sachen. Ich spüre die fragenden Blicke der anderen auf mir. Aber ich schaue niemanden an, stopfe meine Sachen in den Koffer und gehe wieder aus dem Zimmer.
Ich orientiere mich an den Nummern. Eine Treppe runter, zwei Korridore entlang. Mein Zimmer ist ganz am Ende. Ich mache die Tür auf und gehe rein. Es ist klein, ein Schrank, ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett. Das sind die einzigen Möbel. Sonst sind die Wände kahl in Weiß gestrichen. Ich setze mich aufs Bett und starre an die Wand. Ich habe es total vermasselt. Wie konnte ich nur so dumm sein? Warum habe ich mich nicht beherrscht? Ms Sterling hat Recht, ich hätte mich unter Kontrolle halten sollen, ganz gleich was Alice gesagt hat. Das habe ich jetzt davon. Ich muss die Berufspraxiswoche abbrechen und wieder nach Hause gehen. Alle anderen dürfen stattdessen ihre Kurse weitermachen und auf dem Gelände herum toben, sogar Alice. Und ich? Ich gehe wieder zur Schule und muss weiterlernen. Das sind wirklich tolle Aussichten. Ich drehe meinen Kopf und schaue verdrossen aus dem Fenster.
Wenigstens habe ich immer noch eine gute Aussicht. Allerdings nicht auf den Park sondern auf einen kleineren Innenhof, in dem Bäume und eine Rasenfläche angepflanzt sind. Ich sehe genauer hin und erkenne, dass unter dem Schatten eines Baumes, mehrere Menschen stehen und diskutieren. Und ich erkenne auch wer es ist. Es ist die Gruppe, die schon vorhin am Mittagstisch so geheimnisvoll getan hat. Kann mir doch egal sein. Wahrscheinlich wollen sie eh nur Aufmerksamkeit bekommen und tun nur so als würden sie über etwas super Geheimes reden. Überhaupt können die sich doch mal irgendwo anders hinstellen als vor mein Fenster. Wütend lasse ich mich auf die Matratze fallen. Ich weiß nicht wie viel Uhr es ist als Aimee die Tür öffnet.
„Ms Sterling schickt mich. Ähm... Sie sagt dass du nach unten kommen sollst. Was ist denn los?" fragt sie. Ich gehe an ihr vorbei. „Ich muss die Woche hier höchstwahrscheinlich abbrechen." Dann renne ich los. Ich will keine Fragen beantworten, Aimee soll mich endlich mal in Ruhe lassen. Ich gehe nach unten. Sie sitzt wieder an dem gleichen Tisch und wieder lächelt sie mich traurig an. ,Ich muss die Woche abbrechen.' schießt es mir durch den Kopf. Meine Eltern hassen mich. Plötzlich breche ich zusammen und die Tränen strömen nur so aus mir hervor. Ich versuche sie zu unterdrücken, aber es klappt nicht. Immer wieder werde ich von einer neuen Welle Tränen durchgeschüttelt. „Alles okay?" fragt Ms Sterling besorgt, geht zu mir hin und klopft mir auf den Rücken. Ich nicke. Aber es stimmt nicht. Es ist nicht alles okay. Ich bin so bescheuert, egoistisch und dumm. Tausende Schimpftiraden von mir selbst verfasst prasseln auf mich ein. Ms Sterling drückt mir ein Glas Wasser in die Hand. „Setz dich erst mal hin." Schweigend trinke ich mein Glas und schaue aus dem Fenster. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Ich beruhige mich langsam. Als es still um uns wird beginnt Ms Sterling.
„Leider muss ich dir mitteilen dass du die Woche abbrechen musst." Ich seufze auf. Jetzt weiß ich wenigstens endlich ob ich hierbleibe oder nicht. Meine Eltern werden so oder so nicht mehr mit mir reden. Sie fährt fort. „Heute kannst du allerdings noch hier schlafen. Des weiteren bist du von deinen Kursen entbunden und um 10 Uhr wirst du abgeholt. Bis dahin solltest du deine Sachen gepackt haben." Ich nicke noch einmal. „Ja, okay." „Gut." Ms Sterling schiebt ihren Stuhl wieder zurück an den Tisch und steht auf. „Alles weitere werden die deine Eltern dann sagen." Ich weiß. Sie werden sagen dass sie mich nie wieder hier sehen wollen und mir die Tür vor der Nase zuschlagen. Na gut, das vielleicht nicht, aber sie werden mich anschreien und mein Vater wird mir sagen, dass ich die schrecklichste Tochter bin, die Eltern sich nur wünschen können.
Dass ich dumm und aggressiv bin. Dass ich unhöflich, unverschämt und ungebildet bin. Dass ich es nicht verdient habe zu leben. Aber eigentlich stimmt es ja sogar, dass ich unverschämt, dumm, aggressiv und unhöflich bin. Wie ich Aimee ignoriert und stehen gelassen habe. Mich durch ein paar harmlose Sätze von Alice provozieren lasse. Das ist wirklich dumm, unhöflich, aggressiv und unverschämt. Ich gehe nach oben. Dann setze ich mich aufs Bett in meinem Zimmer und schaue aus dem Fenster. Draußen kann man die Sterne sehen. Zuverlässig funkeln sie am Himmel und versprechen mir dass es noch einen nächsten Morgen geben wird. Ich ziehe meine Socken aus und lege mich ins Bett.
Ich bin müde. So müde dass ich jetzt auf der Stelle in einen hundertjährigen Schlaf fallen könnte.In einen Schlaf aus dem ich nie mehr aufwache. Es wird kein Morgen geben, da bin ich mir sicher. Ich schließe die Augen und döse langsam weg. Was auch immer meine Eltern morgen sagen werden es ist mir egal. Sie werden mich gar nicht aufwecken können. Ich werde nie mehr aufwachen. Mit diesem Gedanken trete ich ein ins Reich der Träume.
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Lüge // On Hold
Bilim KurguEine Stadt der Zukunft. Perfekt, ohne Fehler, alles ist schon erfunden, die Menschen leben in Frieden und Einklang. Carlie Hill ist eine von ihnen, ein ganz normales Mädchen, das in der Einheit 048 lebt. Bis sie etwas erfährt, ein Geheimnis, das die...