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Meine erste eigene Wohnung.
Ich seufzte tief und hob den Kopf, tat so, als würde ich mich umsehen und lächelte meine Eltern an. Jedenfalls lächelte ich in die Richtung, wo ich glaubte, sie spüren zu können. "Meinst du wirklich du kommst klar, Clari?", fragten sie unsicher und die Hand meiner Mutter legte sich auf meine Schulter. "Natürlich Mama. Wir haben doch die letzten zwei Monate kaum etwas anderes gemacht, als diese Wohnung auswendig zu lernen und außerdem ist Miriam ab morgen auch mit hier. Das wird schon.", beruhigte ich sie, ging fünf Schritte den Flur entlang, wandte mich mechanisch nach rechts und zählte zehn Schritte ab, ehe ich die Hände vorsichtig ausstreckt und nach weiteren zwei Schritten die Küchentheke erfühlen konnte. Dort blieb ich wieder stehen und atmete einmal tief durch.
Mein gesamtes Leben lang hatte ich mir angewöhnt die Zimmer und Wege mithilfe von einer bestimmten Anzahl an Schritten auswendig zu lernen, sodass ich meist schon beim dritten Mal herum laufen konnte, ohne irgendwie meinen Stock zu benötigen.
Meine Hündin Cira tapste neugierig durch die Wohnung und erkundete ihre neue Umgebung. Ich hörte es an ihren Krallen, die rhythmisch über den Boden schabten, was mir ein Lächeln auf mein Gesicht zauberte.
"Willst du was trinken, Süße?", fragte meine Mutter, die Anspannung in ihrer Stimme war unverkennbar. Sie hatte Angst. Angst davor, dass ich nicht klarkommen würde, dass mir irgendetwas passierte. Ich seufzte und schüttelte den Kopf, ehe ich die 20 Schritte quer durch die Wohnung auf mich nahm, um das Sofa zu erreichen. Das war wohl der schlimmste Weg, ohne irgendwelche Anhaltspunkte irgendwohin gehen zu müssen, doch unvermeidbar in solch großen Räumen, wie sie mir meine Eltern und meine beste Freundin beschrieben hatten. Ich taste mich etwas unbeholfen vorwärts, woraufhin mein Vater sofort zu Hilfe eilen wollte. "Lass mich!", fauchte ich etwas schärfer, als beabsichtigt und versuchte mich deshalb gleich darauf an einem entschuldigenden Lächeln.

"Wir werden jetzt gehen, Süße. Du kommst wirklich zurecht?", vergewisserte sich meine Mutter nochmals und sah mich warscheinlich gerade mit einem ernsten Ausdruck auf den Gesicht an. Ich nickte ihr beruhigend zu und ließ sie mich umarmen. Fest drückte sie meinen zierlichen Körper an sich. Ein Schluchzen entwich ihr, woraufhin ich erst bemerkte, dass sie tatsächlich weinte. "Mein großes Mädchen wird endlich erwachsen.", meinte sie schniefend und ließ mich los. "Mum.", versuchte ich sie zu beruhigen, konnte es allerdings auch irgendwo verstehen, dass sie sich schreckliche Sorgen um mich machte, "Ich muss lernen ohne eure Hilfe zurecht zu kommen, wenn ich mal irgendwas erreichen will." Sie drückte mich noch einmal fest an sich, wandte sich dann zur Tür, auch mein Vater nahm mich kurz in den Arm. Danach waren sie verschwunden. Stille war eingekehrt.
Vorsichtig wandte ich mich wieder um und ging ein weiteres Mal an diesem Tag die fünf Schritte aus dem Flur heraus, wagte es aber diesmal einfach mitten durch den Raum zu spazieren, aus einem vollkommen unbekannten Winkel heraus und stieß prompt gegen die Sofalehne. "Alles klar.", mrmelte ich leise, trat ein paar Schritte zur Seite und konnte mich problemlos hinsetzen.
Es fühlte sich gut an endlich unabhängig zu sein, gerade niemanden zu haben, der jeden Moment sofort herbei sprang, wenn ich irgendwo dagegen stieß. So würde ich lernen endlich vorsichtiger zu werden, mich besser, freier bewegen zu können. Es würde alles gut werden.
Doch irgendwie vermisste ich gerade auch die Gegenwart einer Person um mich herum, die mir helfen konnte, wenn etwas nicht so glatt lief. "Miri kommt doch morgen.", sprach ich mir selbst Mut zu und lehnte mich zurück. Die Augen hielt ich geschlossen, obwohl das sowieso keinen Unterschied machte. Meine Welt war so oder so dunkel, schwarz wie die Nacht. Ich seufzte bei dem Gedanken daran, wie wenig ich eigentlich von der Welt bisher gesehen hatte und trotz ständiger Beschreibungen meiner Eltern, wie bestimmte Dinge aussahen, konnte ich sie mir doch nicht vorstellen. Wie sieht denn ein Regenbogen aus? Oder ein Sonnenuntergang? Alles Dinge, die ich als Dreijährige noch gar nicht bewusst hatte wahrnehmen können und so auch nicht wissen konnte, wie sie überhaupt aussahen.
Traurigkeit übermannte mich und ich verfluchte meine Situation, verfluchte mein Leben, das Schicksal, alles. Natürlich wusste ich, dass es ein Unfall war, reiner Zufall, dass ausgerechnet diese Chemikalie damals vom Regal gefallen war, doch hätte ich lieber einen echten Sündenbock, als zu wissen, dass es gar nicht mir passieren hätte müssen, weil es genauso gut jeden Anderen hätte treffen können.
Das Telefon klingelte und für einen kurzen Moment vergaß ich, dass es auf der anderen Seite des Sofas stand und sah mich irritiert um. Natürlich konnte ich nichts erkennen. Wie auch? Ich war immerhin blind. "Ganz ruhig, Clarisse.", sagte ich zu mir selbst, atmete einmal tief durch, tastete mich dann schnell um das Sofa herum und ging schnellen Schrittes schnurstracks auf das Klingeln zu.

Blind ● Taddl (Reupload) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt