Mal wieder umfingen mich starke Arme.
Ich wurde hochgehoben, als wäre ich ein Fliegengewicht, es fühlte sich an, als würde ich schweben.
"Was ist los?", raunte mir die tiefe Stimme meines Besuchs leise ins Ohr, woraufhin ich eine Gänsehaut bekam. "Nichts, es ist nur...", ich verstummte und eine letzte, einsame Träne rollte meine Wange hinunter.
Taddl, der mich mittlerweile auf dem Sofa abgesetzt hatte, immer noch einen Arm um mich gelegt, entfernte sie sanft. Für einen kurzen Moment wollte ich mein Gesicht an seine große Hand schmiegen, hielt mich dann allerdings doch zurück.
"Also...was ist jetzt?", hakte er wieder nach. "Ein akuter Anfall von Selbstmitleid. Kommt öfters vor.", tat ich meinen Heulkrampf von eben mit einem Schulterzucken ab. "Das sah mir aber nicht so harmlos aus.", stellte er nüchtern fest, während seine Hand weiterhin meine Wange streichelte. "Manchmal passiert das einfach...ich verliere die Orientierung und verzweifle an mir selbst.", versuchte ich ihm meine Situation näher zu bringen, "Wäre ich allein gewesen, hätte ich mich von allein irgendwann wieder aufgerappelt, aber manchmal muss ich all die angestaute Wut über mich selbst herauslassen und das kommt meistens in Form von Tränen. Ich bin kein gewalttätiger Mensch, der in solchen Situationen Kissen oder Wände verprügelt. Ich trete auch nicht gern gegen Gegenstände, habe mir dazu schon zu oft die Füße irgendwo gestoßen und naja...laufen gehen oder allgemein einfach an die frische Luft ist sowieso nicht möglich."
Warum ich ihm das soeben alles erzählt hatte, all diese Gründe nannte, die für meine inneren Konflikte verantwortlich waren, konnte ich nicht sagen. Vielleicht lag es an seiner ruhigen Art, seinem besonderen Blickwinkel auf die Welt oder einfach daran, dass ich ihn gern hatte.
Ich kannte diesen Mann seit gestern und war scheinbar hoffnungslos verliebt, vielleicht auch nur verschossen, aber auf jeden Fall erschien er mir gerade nicht mehr aus meinem Leben wegzudenken. Ich hatte keine Ahnung, was er für mich empfand, ob er einfach nur nett war, weil er mein Nachbar ist und ich blind oder ob er mich mochte, ich konnte es nicht wissen. Ich konnte ihm niemals in die Augen sehen, seinen Ausdruck wahrnehmen, den seine Miene hatte, wenn er mich ansah. Nichts außer seine Stimmlage und das Gefühl, wenn er mich berührte würde ich jemals wahrnehmen können.
Sofort überkam mich wieder diese unsägliche Traurigkeit.
Taddl schien mir das anzusehen, denn im nächsten Moment fand ich mich in seinen Armen wieder. Er hielt mich fest, wie das zuvor nur meine Mutter getan hatte, allerdings ohne zu klammern. Ich ließ mich seufzend gegen ihn sinken und schloss die Augen, um auf seinen Herzschlag zu hören.Es hatte mich schon immer entspannt zu spüren, dass es noch andere Lebendige um mich herum gab. Ich konnte sie zwar nicht sehen, dafür aber umso besser spüren und hören, während ich meine Augen schloss, die sowieso nutzlose Überbleibsel eines früheren Lebens waren. Sein Atem ging regelmäßig, allerdings nicht langsam genug, weshalb ich darauf schloss, dass er nachdenklich vor sich hin starrte. Wir beide schwiegen, bis ich plötzlich die alles entscheidende Frage stellte: "Wer bist du?"
"Ich bin wie du.", antwortete er nachdenklich, woraufhin ich tief Luft holte. "Nein. Ich möchte wissen, wer du bist. Nicht, wie.", gab ich zurück und fuhr mir mit der Hand über mein Gesicht. "Kann man jemals selbst wissen, wer man ist?", hinterfragte er nachdenklich und spielte an einer meiner Haarsträhnen. "Beschäftigt man sich lang genug mit sich selbst, dann vielleicht." "Ist man aber jemand, der sich stetig verändert, immer und immer wieder, wie soll man dann jemals herausfinden, wer man ist?" Ich seufzte, während ich über seine Worte nach dachte. "Ich glaube nicht, dass man sich innerlich verändert. Äußerlich vielleicht, aber sonst passt man sich eher an seine Umgebung an, bzw. distanziert sich von dieser, um entweder dazu gehören oder sich von der Menge abzuheben. Willst du dazu gehören oder distanzierst du dich von der Masse?" "Ich denke ich distanziere mich von der Masse, gehöre aber zu den Leuten, die sind, wie ich.", antwortete er mir sofort, ohne groß zu überlegen. Ich nickte, hatte verstanden, was er meinte und fuhr mir über die Arme, deren Gänsehaut seit Minuten nicht verschwinden wollte. "Du bist also jemand, der nicht mit Trends mit gehen will?" Ich spürte, wie er sich unter mir bewegte. "So könnte man es wohl sehen, aber irgendwie auch nicht. Ich denke, ich bin noch auf der Suche nach meinem Platz in dieser Welt." "Wieso bist du hier, wenn du ihn noch nicht gefunden hast?" "Ich weiß es nicht, vielleicht, weil Freunde hier sind oder weil ich glaube hier den Weg zu finden?" Ich setzte mich ein wenig auf, um mehr Konzentration auf seine Worte, statt auf seine Hand in meinen Haaren zu lenken. "Dann scheinen dir Freundschaften sehr viel zu bedeuten.", stellte ich nachdenklich fest und begann nun ebenfalls eine meiner Strähnen um meinen linken Ringfinger zu wickeln. "Ja, ein bisschen Freundschaft ist mir mehr wert als die Bewunderung der ganzen Welt." Ich lächelte, nicht in seine Richtung, das würde sowieso schief gehen, aber meine Mundwinkel zogen sich unwillkürlich nach oben.

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Blind ● Taddl (Reupload)
FanfictionClarisse hat ein großes Handicap, sie ist blind. Im Alter von 3 Jahren erlitt sie beim Spielen einen Unfall mit Chemikalien, die ihr das Augenlicht für immer nahmen. Sie hasst es, wie eine 'Behinderte' behandelt zu werden und versucht deshalb sich s...