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"Wenn zwei deiner besten Freunde in Lebensgefahr schweben würden. Wen rettest du?", fragte ich neugierig, nachdem wir einige Minuten schweigend vor uns hin gedacht hatten. "Ich hasse solche Fragen." "Im Leben gibt es solche Entscheidungen aber oft, wenn du dich weigerst, sterben beide.", erklärte ich sachlich und zog die Knie heran. "Also entweder ich entscheide mich für einen von beiden oder es sterben alle zwei?" Ich nickte. "Das ist doof." Wieder gab ich ihm recht. "Ich würde versuchen beide zu retten." "Nicht möglich. Einen oder keinen." Er seufzte frustriert auf. "Wieso stellst du mir solche Fragen?" "Ich will wissen, wer du bist.", antwortete ich völlig ausdruckslos und starrte ins Leere, ohne irgendetwas sehen zu können. "Ich bin Thaddeus! Ich bin 21 Jahre alt und wohne schon seit vier Jahren in Köln!", blaffte er mich an, woraufhin ich abwehrend die Hände hob. "Das interessiert mich wenig, weil ich mir sowieso kein Bild von dir machen kann. Falls du mal darüber nachdenken solltest: Ich sehe nichts und muss mir demnach die Leute nach ihrem Charakter vorstellen und dies gelingt mir nur, wenn ich wirklich herausfinde wer sie sind." Während des Sprechens war meine Stimme immer leiser geworden, da ich merkte, dass mein Tonfall viel zu scharf war. Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen.
"Ich glaube da wirst du ins Leere greifen bei mir. Ich weiß selbst nicht, wer ich bin.", murmelte er schuldbewusst und ließ meine Haare los. "Man selbst weiß oft weniger über sich, als Mitmenschen es tun.", antwortete ich nachdenklich, dass Kinn auf die Knie gestützt, "Ich versuche mir aus dem, was ich höre und spüre ein Bild der Person zu erstellen, ohne ein wirkliches vor Augen zu haben." Er regte sich neben mir kurz, um eine gemütlichere Sitzposition zu finden. "Sagen wir, ich urteile niemals nach dem Aussehen, sondern nach der Wirkung eines Menschen." "Klingt einleuchtend.", pflichtete er mir bei. "Bleibt mir ja nichts anderes übrig.", gab ich zu bedenken.
"Wer bist du?", fragte er plötzlich, ehe ich etwas anderes fragen konnte. "Willst du das wirklich wissen?" Ich veränderte meine Sitzposition, streckte meine Beine lang auf den Couch-Tisch und lehnte mich entspannt zurück. "Ja.", kam es vorsichtig von ihm.
Ich seufzte tief. "Ich würde mich als stille Zuhörerin bezeichnen, die ihren Platz am Rande des Geschehens gefunden hat. Dort verweile ich, bis mir eine neue Aufgabe zuteil wird. Ich sehe nichts und verstehe doch viel mehr, als man sich vorstellen kann.", erklärte ich ihm zögernd meine Person. Es klang, als würde ich von einer Fremden reden, doch wusste ich, dass genau dies die Wahrheit war, die mich zu dem machte, was ich heute bin. "Und dein Weg? Deine Bestimmung?", hakte er nach, jetzt erpicht darauf mehr über mich zu erfahren. "Du solltest dir keine Gedanken darüber machen, wer ich bin oder wofür ich da bin. Vielleicht solltest du eher mal in dein Inneres horchen, um herauszufinden, wer du bist.", riet ich ihm und musste mir eingestehen, dass ich warscheinlich die perfekte Psychologin abgeben würde. "Ich bin ein Zweifler und vielleicht sogar ein Weltverbesserer. Jedenfalls würde ich das gerne sein.", meinte er selbstbewusst, woraufhin ich nur den Kopf schüttelte. "So geht das nicht. Du kannst nicht einfach das sagen, was du gerne sein willst. Du musst mir das sagen, was du wirklich bist. Du kannst kein Zweifler sein." "Warum?", fragte er enttäuscht. Ich seufzte, fühlte mich ein wenig, als würde ich einem kleinen Kind den Sinn des Lebens erklären. "Das was da drin ist, zweifelt nicht.", sagte ich mit Nachdruck und tippte ihm zweimal gegen die Stirn, "Zweifler sind unsichere Menschen, die nichts eigenes erschaffen, das aber auch anderen nicht zutrauen. Du bist kein Zweifler, du bist ein Denker und vielleicht auch ein Träumer. So genau kann ich das noch nicht sagen." Taddl schwieg. Ich wusste, wie schwer es zu akzeptieren war, dass andere Menschen mehr über einen selbst wussten, als man jemals erwartet hätte, aber ebendrum fand ich, dass es essentiell wichtig ist, mit Anderen über sich zu sprechen.
Ich liebte diese Ungläubigkeit in den Stimmen, wenn ich Personen, die ich vor kurzer Zeit erst kennengelernt hatte, eine umfangreiche, ziemlich genaue Charakterbeschreibung vorlegen konnte, die sie besser beschreibt, als alles was sie sich selbst denken konnten. Es war zwar noch nicht oft vorgekommen, aber ab und zu hatte ich nunmal doch schon neue Menschen kennengelernt, aber keine Person war bisher so einfach, wie Taddl.
"Du träumst und versuchst weitestgehend deine Träume zu verwirklichen, würdest aber für die Freundschaft alles aufgeben. Ich würde sagen, du bist der ideale Schwiegersohn, warscheinlich würde dich deine Schwiegermutter gleich selbst heiraten wollen.", schmunzelte ich, um einfach die Philosophie aus dem Gespräch zu entfernen und meine Gedanken wieder aus den Tiefen meines Hirns in die Wirklichkeit zurück zu schicken. "Ich glaube eher nicht.", zweifelte Taddl meine Bemerkung an, musste allerdings ebenfalls grinsen, "Ich denke mein Aussehen schreckt eher jede Schwiegermutter ab."
Jetzt war es an mir lauthals aufzulachen. "Habe ich etwas falsches gesagt?", fragte er verwirrt und ließ endlich meine Haare in Frieden. "Nein, nein.", lachte ich, "Es ist nur so, dass ich dir vorhin erklärt habe, dass ich Menschen nicht nach ihrem Aussehen, sondern nach ihrem Charakter analysiere und dann kommst du und willst mir erklären, dass dein Aussehen jede Schwiegermutter abschreckt. Ist das nicht egal? Ich achte sowieso nicht darauf und kann es theoretisch gesehen gar nicht wissen. Meine Beschreibung traf einzig und allein auf deinen Charakter zu, nicht etwa auf dein, für mich unvorstellbares, Aussehen." Jetzt musste er ebenfalls glucksen, da er scheinbar bemerkt hatte, wie absurd seine Bemerkung einem blinden Mädchen gegenüber klang.

Blind ● Taddl (Reupload) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt