1. Fünf Tage

508 36 3
                                    

Kapitel 1 - Fünf Tage

Lillys Sicht

Stunden waren vergangen, seit ich mich an Thorins Bett niedergelassen hatte und Stunden würde ich auch noch hier sitzen bleiben. Da ich selbst keinen Schlaf fand, sah ich ihm beim Schlafen zu. Sein Gesicht war so ruhig, als würde er sich nur einen Moment ausruhen, doch wenn man erst einmal erkannte wie blass er doch eigentlich war, dann erkannte man auch, dass es ihm nicht mehr gut ging. Er lag im Koma, schon seit Tagen. Ich selbst war erst vor vier Tagen aufgewacht...oder war es schon länger her? Seit dem ich in diesem Zimmer nicht mehr von Thorins Seite wich, hatte ich kein Gefühl mehr für die Zeit. Sie schien bedeutungslos geworden sein. Seufzend fuhren meine Finger den Konturen seiner Gesichtszüge nach. Er hatte tiefe, schwarze Ringe unter den Augen und seine Wangen waren irgendwie fahl und eingefallen. Óin meinte, dass er sich weit in der Schattenwelt auf der anderen Seite befand und den Weg zu uns zurück selber finden musste. Niemand konnte ihm dabei helfen. Im Klartext hieß das also, dass er an der Sterbensgrenze wandelte.
Ich seufzte laut in die drückende Stille hinein und versuchte nicht an das zu denken, was mir permanent durch den Kopf schoss. Doch wenn es so ruhig ist, dass man sogar die flachen, leisen Atemzüge Thorins hören konnte, wenn man sich am anderen Ende des Zimmers befand, und es keine Möglichkeit gab sich auch nur ansatzweise abzulenken, dann konnte so eine Stille beängstigend sein, vor allem wenn man versucht seine Gedanken nicht schweifen zu lassen. Wenn man versucht nicht an vergangene, schreckliche Geschehnisse zu denken. Wenn man versucht sich nicht schuldig zu fühlen. Wenn man versucht nicht daran zu denken was hätte sein können.
Ich schüttelte den Kopf. Genau diese Art von Gedanken wollte ich aus meinem Kopf verbannen. Ich wrang ein kühles Tuch im kalten Wasser aus und fuhr ihm damit über die glühende Stirn. Unruhig bewegte er sich im Schlaf. Das war bei weitem nichts neues für mich, doch es erschreckte mich immer wieder, wie tief er im Fieberschlaf lag.
Ein Klopfen ließ mich plötzlich zusammenzucken und ich richtete meinen Blick auf die Schwere Eichenholztür, die sich mit einem leisen Quietschen öffnete. Im Halbdunklen Licht erkannte ich, wie Sam hereintrat und auf mich zusteuerte.
„Ist er immer noch nicht aufgewacht?", fragte er, nachdem er mich kurz umarmt hatte und mich mitfühlend ansah.
Ich schüttelte stumm den Kopf und senkte den Blick. Ich wollte ihn jetzt nicht sehen. Zu viel ging in mir vor und für zu vieles gab ich mir selbst die Schuld. Ich fürchtete, wenn ich nur den Mund aufmachte, würde alles aus mir herausbrechen. Die Last der Ereignisse verband ich mit einer gewissen Übelkeit, die in mir durch schmerzhafte Erinnerungen und Schuldzuweisungen immer wieder aufkam.
Seufzend ließ er sich neben mir nieder, nachdem er mich kritisch betrachtet hatte. „Du schläfst nicht", stellte er ruhig fest und als ich den Kopf ein bisschen zur Seite drehte, blickte ich direkt in seine besorgten, grauen Augen.
„Ich-", fing ich an es zu leugnen, doch dann ließ ich es. Ich hatte weder die Kraft noch die Energie eine Diskussion auszufechten und nickte deshalb geschlagen. „Ja, du hast Recht"
Sam sagte nichts, sondern sah mich nur weiter schweigend an, bevor er einen Arm um mich legte und mich an sich drückte. „Du weißt, dass du alles sagen kannst, was du möchtest"
Ich nickte und schloss die Augen, während ich tief Luft holte. „Ich kann nicht schlafen", erklärte ich leise. „Weil...jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich Bilder. Schreckliche Bilder" Mein Atem ging Stoßweise. „Eines jagt das Andere und sie werden immer schlimmer. Bilder von der Schlacht, tote Männer, Frauen und Kinder und...und-", zitternd brach ich ab und wischte mir über die Augen, in denen sich Tränen sammelten.
„Und du siehst immer wieder wie er verletzt wird", beendete Sam meinen Satz und seine Augen wanderten zum Bett.
Ich unterdrückte ein Aufschluchzen und nickte.
„He, ganz ruhig", murmelte er beruhigend. „Er wird wieder, da bin ich mir ganz sicher"
„Aber was wenn nicht? " Fröstelnd schlang ich die Arme um mich. „Was ist wenn er einfach nicht mehr gesund wird?"
„Dann wirst du es trotzdem überleben. So hart dies jetzt auch klingen mag, aber das Leben geht weiter und Thorin hätte gewollt dass du es in vollen Zügen genießt"
Ich zuckte nur die Schultern. „Ich werde jetzt wohl nie wissen, was er gewollt hätte", murmelte ich, wagte es nicht an den schlimmsten Fall zu denken.
Sam seufzte leise auf, bevor er sich neben mich kniete. „Lilly, das was du durchmachst ist vollkommen normal. Deine Depressionen, die Träume, die Schuldzuweisungen...das sind posttraumatische Belastungsstörungen"
Fragend sah ich ihn an und Sam seufzte abermals. „Ich hatte das auch, weißt du noch", murmelte er und wirkte nun leicht niedergeschlagen. „Damals, als ich...", er brach ab und nun musterte ich ihn das erste Mal aufmerksam.
„Damals als du aus dem Krieg zurück warst", vollendete ich seinen Satz.
Er nickte und ich erinnerte mich an das Jahr. Sam hatte sich zuerst als ein Soldat auf Zeit verpflichtet, bevor er sich dazu entschlossen hatte bei der Bundeswehr Medizin zu studieren. Er war zwei Jahre lang im Einsatz, wo wusste ich nicht, hatte er es nie erzählt. Doch als er zurückkam war er wie ausgewechselt gewesen und wenn ich an diese Zeit zurückdachte, dann war er mein vergangenes Spiegelbild.
„Ich weiß was du durchmachst und-"
„Ach Quatsch, das weißt du nicht", ich versuchte meine Wut unter Kontrolle zu halten. Ich wusste dass es nicht fair war, doch irgendwie musste ich meine Angst vergraben und Wut war ein guter Puffer. „Er liegt hier...und...", meine Augen wurden wässrig und ehe ich mich versah schluchzte ich hemmungslos.
Sam strich mir mitfühlend über den Arm und ich war dankbar, dass er nicht versuchte mich zu umarmen.
„Du hast recht", sagte er sanft. „Ich habe keine Ahnung wie du dich fühlst. Ich will dir nur sagen, dass es vorübergeht. Es wird besser"
„Werden diese Bilder jemals verschwinden?", fragte ich erstickt und umklammerte mich selbst.
Sam schüttelte den Kopf, lächelte mich traurig an. „Nein, aber mit der Zeit lernst du damit zu leben"
Ich schluckte und schluchzte stumm weiter. Sam schien noch irgendetwas zu sagen, was ich nicht verstand, doch er erhob sich und streckte mir seine Hand entgegen. „Komm schon, du musst mal wieder hier raus"
Ich gab ihm eine Antwort sondern starrte nur weiter auf das Krankenbett, wo mein Blick wieder Mal an Thorins Gesicht hängen blieb. Eine drückende Stille entstand, ehe ich langsam aber bestimmt den Kopf schüttelte.
„Nein", erklärte ich und tastete nach Thorins Hand die sich erschreckend kalt und starr anfühlte. „Ich werde hier nicht weggehen"
„Aber Lilly, du-"
„Nein", fuhr ich ihn nun etwas härter und entschlossener an. Sam runzelte besorgt die Stirn, doch es war mir gleich. Schweigend sah ich eisern an ihm vorbei. Es war meine Aufgabe an seinem Bett zu sitzen und deswegen...ich würde ihn nicht schon wieder im Stich lassen.
Ich hörte Sam seufzen und dann wie ein Stuhl über das Parkett gezogen wurde. „Na gut, anscheinend wirst du hier nicht weggehen. Dann werde ich halt mit dir warten", erklärte er mir, während er sich setzte.
Erstaunt sah ich ihn an „Das würdest du für ihn tun?"
Sam lachte leise auf. „Nein, nicht für ihn", er drückte sachte meine Hand. „Sondern für dich"
Ich rang mir ein Lächeln ab. „Danke", murmelte ich heißer und lehnte mich an ihn an.
Die Stille, die nur durch unsere leisen Atemzüge unterbrochen wurde, schien ihren drückenden Charakter nicht verloren zu haben, doch es während Sam meine Hand hielt und ruhig neben mir saß, wirkte sie nicht mehr ganz so bedrohlich.
Nach einer Weile ertönte ein sachtes Klopfen. Ich musste mich gar nicht erst umdrehen, um zu wissen wer es war. Jeden Tag kam Óin und untersuchte Thorin aufs Neue. Jeden Tag wechselte er seine Verbände. Jeden Tag wurde die Behandlung länger...es gab nie ein Zeichen der Besserung.
„Wie geht es ihm heute?" kam Balin sogleich auf den Punkt und trat neben mir an das Bett.
Balin begleitete Óin meistens. Wahrscheinlich aus dem Grund, weil Óin es nicht mehr allein mit mir in einem Zimmer aushielt. Begonnen hatte es damit, dass er mir am ersten Tag, an dem ich wieder wach war Thorins Situation erklärt hatte. Daraufhin hatte ich ihn angeschrien hatte, warum er keine Heilung fand und wäre fast auf ihn losgegangen. Geendet hatte diese Aktion damit, dass Sam mich fest gepackt und Mia mir mit Gewalt irgendein Mittel eingeflößt hatte.
„Wie schon gestern", erwiderte ich und wich Óins Blick aus, mit dem er mich kritisch musterte. „Und Vorgestern und vor drei Tagen", ich seufzte, „Einfach unverändert"
Óin nickte, doch sein Blick lag weiterhin auf mir. „Du siehst krank aus, meine Liebe. Wann hast du zuletzt etwas gegessen?", fragte er, während er prüfend um mich herum ging. Ich zuckte nur mit den Schultern und sah zu Boden. Ich hatte fast nichts mehr gegessen seitdem ich wieder aufgewacht war, doch brauchte er das nicht zu wissen. Ich brachte sowieso nichts hinunter, warum sich dann die Mühe machen?
„Aber so geht das doch nicht, Lilly. Der menschliche Körper braucht Nahrung und deiner ist da keine Ausnahme", rief Sam entrüstet und sah mich besorgt an. „Wenn du nichts isst und dich selber quälst wird Thorin dadurch auch nicht gesund"
Ich zuckte erneut mit den Schultern. Es war mir herzlich egal, denn wie blöd es sich auch anhörte, so fühlte ich mich wenigstens ein bisschen besser.
„Naja", meinte Óin plötzlich und kam auf mich zu. „Dürfte ich mir wenigstens deine Wunden ansehen?"
Ich nickte schweigend, doch als Óin näher treten wollte streckte ich die Hand aus. „Zuerst er"
Óin sah mich erst noch einen Augenblick irritiert an, bevor er langsam nickte und sich daran machte den Verband um Thorins Bauch abzuwickeln. Mit einem Schaudern sah ich was Azog ihm angetan hatte. In seinem Bauch klaffte ein riesiges Loch. Man sollte meinen nach dem gefühlt tausensten Mal hätte ich mich an diesen Anblick gewöhnt, doch es war jedes Mal eine Überwindung überhaupt hinzusehen...dennoch sah ich Óin ganz genau zu.
„Und wie geht es ihm jetzt?", fragte ich den alten Zwerg, als er sich gerade daran machte Thorins Wunde zu säubern.
Óin sah zu Balin und Sam und zögerte kurz, was mir schon einen unangenehmen Stich in den Magen versetzte. „Erzähl es mir", verlangte ich und Balin nickte Óin schließlich zu.
„Er ist sehr schwach. Die Wunde hat mittlerweile aufgehört zu bluten, das ist gut. Aber mir bereitet der Umstand eine große Sorgen, dass sie noch immer nicht begonnen hat sich zu schließen", meinte er und ich spürte wie der Klos in meiner Kehle größer wurde.
„Wie lange gibst du ihm noch?", fragte ich leise, heißer und sah betreten zu Boden.
„Nicht länger als fünf Tage. Wenn er in dieser Zeit nicht aufwacht, wird es wohl keine Rettung mehr für ihn geben"
„Aber-"
„Er braucht feste Nahrung", unterbrach mich Óin bestimmt. „Seine Verletzungen rauben ihm viel Kraft, aber wenn dir kein Weg einfällt, wie wir ihn ernähren können, ohne dass er selbstständig kauen muss, kann ich leider keine andere Prognose stellen"
Ich wollte protestieren, doch seine Worte entsprachen der Wahrheit. „Ist gut", murmelte ich niedergeschlagen, doch es war eine Lüge. Nichts war gut, aber auch rein gar nichts. Es war eher wie ein erneuter Schlag in die Magengrube. Mit leerem Blick sah ich Óin zu, wie er einen frischen Verband um seinen Bauch wickelte.
„Es ist einfach nicht fair", murmelte ich heißer.
Balin sah mich mitleidig an. „Ach Kindchen, der Krieg war noch nie fair"
Óin zog die Decke wieder über Thorins bleiche Brust, ehe er sich mir zuwandte. Ich seufzte und hob die Arme um mir mein Oberteil auszuziehen.
„Äh...wir warten draußen", erklärte Sam hastig und kaschierte mit Balin im Schlepptau zur Tür. Ich verdrehte leicht die Augen.
„Du bist doch selber Arzt"
„Ja aber trotzdem nicht darauf versessen dich nackt zu sehen", erklärte er, ehe er die Tür hinter sich zu zog.
Ich seufzte noch einmal und zog mir das Oberteil über den Kopf, was ich wohl bemerkt vor zwei Tagen noch nicht hatte selbstständig tun können.
Es war nicht so, dass ich es angenehm fand halbnackt vor einem Zwerg zu stehen, mit dem ich nun fast ein Jahr unterwegs gewesen war, doch es schien mir beinahe so, dass es Óin noch unangenehmer war als mir.
„Also, dann wollen wir mal sehen", sagte er verlegen. Er packte die Creme aus, die ich mittlerweile schon gewohnt war, während er die Prellungen an Rücken, Hüfte und Leiste einschmierte. Danach kamen die Verbände an der Taille und Arm.
„Sieht soweit gut aus", sagte Óin fachlich und tastete leicht die geschundenen Stellen ab. „Die Prellungen scheinen gut verheilt zu sein und auch die Stich- und Schnittverletzungen schließen sich"
Ich nickte und zog mir mein Oberteil wieder über.
„Dein Bein sieht auch in Ordnung aus, der Bruch heilt gut. In einem Monat können wir die Schiene entfernen"
Ich nickte abermals.
„Leider werden unschöne Erinnerungen zurückbleiben", erklärte Óin schließlich und setzte sich nun neben mich. „Die Schnittwunde an der Wange, sowie die Stichverletzung an der Taille werden Narben hinterlassen"
Das hatte ich mir irgendwie schon gedacht. „Na und?" Ich zuckte teilnahmslos mit den Schultern. „Ich muss mich ja nicht sehen, nur ihr müsst mit meinem Anblick klar kommen"
Daraufhin sagte Óin nichts mehr. Er besah sich noch einmal still mein gebrochenes Bein, ehe er mir kurz aufmunternd zunickte und den Raum verließ, worauf sogleich Sam eintrat.
„Und?", fragte er und setzte sich wieder neben mich.
„Alles heilt perfekt", spukte ich die Worte aus. „Es scheint wohl so, als wäre der Tod ein riesen Arschloch"
„Na, dann ist das ja der perfekte Zeitpunkt"
„Der perfekte Zeitpunkt für was?" Verwirrt sah ich ihn an und kreuzte die Arme vor der Brust.
„Du meine Liebe, wirst nun endlich dieses Zimmer verlassen!"

(2 296 Wörter)

Eine Reise Durch MittelerdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt