Waldkind

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Sobald er die Aufnahmen sah, holte Onkel Thorsten die Gewehre und bat mich, mir meine Wanderschuhe anzuziehen und ihn in den Wald zu begleiten. Wir stiegen zusammen in seinen Landrover und er fuhr bis zu einem von Tannennadeln bedeckten Waldweg mit festgetretener Erde, wo er den Wagen abstellte und wir ausstiegen.

"Hier, Junge", sagte Thorsten und reichte mir mein Gewehr.

"Danke." Ich hängte es mir über die Schulter, in der Hoffnung, es heute nicht gebrauchen zu müssen. Mit einem Förster zum Onkel war ein zulässiger Waffenschein für mich Pflicht gewesen und ich hatte mich bisher nie beschweren können - doch nachdem Nils, ein Jäger heute morgen zu uns gekommen und Thorsten die Aufnahmen gezeigt hatte, wog das Gewehr auf meiner Schulter plötzlich zehn Kilo schwerer.

Thorsten ging voran und bahnte sich einen Weg durchs Unterholz, da wir die befestigte Straße sehr schnell verlassen hatten. Die Stille lastete seltsam schwer auf meiner Brust. Jeder meiner Schritte hallte laut zwischen den Tannen und Laubbäumen wider und die Blätter unter Thorstens und meinen Schuhen knirschten, als wären sie Skelette. In mir kam der Drang auf, mich umzudrehen und zu vergewissern, dass mir niemand folgte, denn ich hatte dieses seltsame, unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden - als säßen Augen in meinem Nacken, als wären Blicke auf mich gerichtet, die zuschauten. Aus einem Grund, den ich nicht erklären konnte, ärgerte mich das. In diesem Wald war ich quasi aufgewachsen und hatte mich nie gefürchtet - und jetzt war ich 19 Jahre alt und das Herz klopfte mir bis zum Hals.

Ganz ruhig, Charlie.

"Das hier ist die Stelle..."

Ich blieb neben Onkel Thorsten stehen und neigte den Kopf. Die Lichtung sah ganz gewöhnlich aus, ich war sogar schon einige Male hier gewesen. Normale Bäume, normale Büsche und trocknende Blätter auf dem Boden - als wäre hier nie etwas geschehen.

"Hier stand die Kamera, oder?", fragte ich und trat an die Stelle, die ich erspäht hatte. Diese Perspektive kam mir unangenehm bekannt vor und ich versuchte, mir vorzustellen, was hier geschehen und von der Jägerkamera eingefangen worden war.

Es kam mir noch unwirklich vor. Wir hatten am Frühstückstisch gesessen, als Nils heute morgen bei meinem Onkel geklingelt hatte. Aufgeregt hatte er uns ein Foto unter die Nase gehalten, von dem ich zunächst mit fester Überzeugung davon ausgegangen war, dass es sich um einen Fake handelte:

Das Bild zeigte diese Lichtung - jene, auf der ich gerade mit meinem Onkel stand. Im Vordergrund konnte man den Kopf eines Hirschs sehen, der in Richtung der Kamera blickte, hinter ihm befand sich ein Reh neben einem kahlen Baum. Bis hierher wäre das noch nichts Besonderes - bloß ein ganz gewöhnliches Bild, das von einer Jägerkamera aufgenommen worden war.

Wäre da nicht das Mädchen gewesen.

Sie sah an sich gar nicht unheimlich aus. Kinnlange, unordentliche, helle Haare, ein Nachthemd, ein Teddy, den es an sich gedrückt hatte. Etwa sieben. Auf einem normalen Foto wäre es vollkommen gewöhnlich gewesen - aber was, ja was machte ein solches Mädchen um halb drei Uhr morgens allein im Wald? Und warum starrte sie direkt in die Kamera? Warum sah das Reh im Hintergrund sie an, warum lief es nicht weg? Und die wichtigste Frage: Wenn hier gestern Nacht wirklich ein kleines Mädchen umhergestreift war - wo war es dann jetzt?

"Ich nehme es an", murmelte Thorsten nachdenklich. Er ging in die Hocke und strich mit den behandschuhten Fingern über das Laub, die Stirn in Falten gelegt.

"Irgendwelche Spuren?", fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. "Sie muss hier gestanden haben", sagte er mit leiser Stimme. "Warum gibt es keinen Hinweis, dass sie hier gewesen ist?"

"Es sind bestimmt Tiere vorbeigekommen, die die Spuren verfälscht haben." Ich suchte nach eine Erklärung. Diese dämliche Gänsehaut!

Thorsten richtete sich auf. "Man sollte trotzdem etwas sehen, Charlie."

"Dann war es Photoshop?"

"Denkst du wirklich, Nils kann mit Photoshop umgehen?" Darauf wusste ich nichts zu erwidern.

Wir suchten die Umgebung ab, lauschen in der Stille nach verräterischen Geräuschen, versuchten, einen Anhaltspunkt zu finden, einen Hinweis auf das Mädchen.

Natürlich fanden wir nichts.

Als Onkel Thorsten und ich schließlich zum Landrover zurückkehrten, war die Dämmerung bereits so weit vorangeschritten, dass ich nur noch schwache Umrisse überall erkennen konnte. Auch wenn wir nichts gefunden haben, kam mir dieser Wald auch auf dem Rückweg nicht weniger gespenstisch vor und ich spürte eine - ebenfalls ziemlich nervige - Erleichterung, als ich im Wagen saß und endlich ausatmen konnte. Zu viele Horrorfilme, Charlie. Zu viele Horrorfilme.

Thorsten seufzte, als er den Motor startete.

"Enttäuscht?", fragte ich. Mein Onkel setzte den Wagen in Bewegung und schaltete das Fernlicht ein.

"Ein wenig."

"Denkst du, das Mädchen läuft da draußen herum?"

Er lehnte sich in den Sitz und warf mir einen Seitenblick zu. "Wenn das der Fall wäre, hätte dieses Kind ein großes Problem", sagte er schließlich. "Es wäre schon seine zweite Nacht im Wald, ganz alleine. Vielleicht sollten wir jetzt die Polizei verständigen..." Thorsten schaute mich kurz an. "Es könnte so weit gegangen sein, dass es nicht mehr in dem Bereich ist, den wir abgesucht haben. Das Mädchen muss vollkommen verängstigt sein."

"Ich glaube nicht, dass das Foto echt ist." So, das musste gesagt werden. "Wenn der Fake nicht von Nils ist, dann hat sich eben jemand anders einen Scherz erlaubt. Aber die fehlenden Spuren sprechen doch für sich."

"Es gibt einfach zu viele Ungereimtheiten", murmelte Thorsten. "Du hast vielleicht Recht..."

Ich hoffte es zumindest. Nachdenklich ließ ich mich gegen die Kopfstütze sinken und betrachtete die unbeleuchtet Straße, die Bäume, die vorbeizogen.

"Wenn das wirklich eine Fälschung ist, muss derjenige, der das angestellt hat, dafür gerade stehen", meinte Thorsten. "Kann sein, dass eine Geldstrafe dabei rumkommt. So was ist kein Spaß. Andererseits, ich kann mir nicht vorstellen, wer so etwas tun sollte... und dann auch noch mit Nils' Kamera. Nein, Charlie, deine Theorie ist hinfällig, oder würdest du jemanden...-"

"STOPP!", brüllte ich plötzlich und fuhr hoch und Thorstens Kopf schoss herum und er trat reflexartig auf die Bremsen, sodass ich in den Anschnallgurt geworfen wurde, doch mein Herzschlag hatte ohnehin ausgesetzt. Der Wagen stand auf der leeren Straßen, abgewürgter Motor, aber eingeschaltete Scheinwerfer. Und schweigend, mit offenem Mund saßen wir nebeneinander, konnten kaum glauben, was wir da sahen und starrten nur nach draußen. Starrten das Mädchen an. Und sie starrte zurück, mit so riesigen Augen, als wäre sie selbst ein Reh, eines von denen, mit denen sie auf dem Foto zu sehen war.

Sie war kein Mensch. Das war sofort klar. Ihre Augen waren milchig weiß, keine Pupille, keine Iris, kein gar nichts - wie man es auf dem Bild hätte erkennen können, allerdings hatte ich es dort für einen Nebeneffekt der Nachtsicht gehalten. Ihr Haar, ihr Nachthemd, das sah menschlich aus, doch etwas anderes, das darauf hinweisen könnte, fand ich an ihr nicht.

Sie starrte uns an, starrte uns einfach nur an und wir starrten zurück und irgendwann, nach einer Ewigkeit, in der mein Herzschlag ausgesetzt hatte, drehte sie sich um und verschwand im Dunkel des Waldes.

"... Und du dachtest, es sei eine Fälschung", sagte Thorsten.

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