Eine unbeachtete Warnung

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Warst du jemals unvorsichtig?

Wahrscheinlich schon. Ich sage dir - niemand ist unvorsichtiger als ein Bewohner eines Vorortes, der im Winter abends nach Hause muss. Falls du so eine Person bist, hörst du sicherlich auch oft die Dinge, die deine Mutter dir mit einem besorgten Gesichtsausdruck einschärft. Von wegen Verbrecher und Wegelagerer und fallende Klaviere, die einen auf der unbeleuchteten Straße erschlagen könnten.

Gerade das, wo Mama bedenken hat, übt natürlich einen Reiz auf mich aus.

"Gehst du jetzt alleine nach Hause?", fragte Mila, als ich die Umkleidekabine nach dem Volleyballtraining verlassen wollte.

"Fang du nicht auch noch damit an", stöhnte ich.

Olivia gesellte sich dazu. "Hast du nicht von der Bestie gehört?"

Ich schlug mir mit der Hand gegen die Stirn.

"Das ist mein Ernst", beteuerte sie. "Die Leute sagen, es gibt ein Monster in der Stadt. Es zieht über die Landstraße, manchmal sieht man einen Schatten oder rote Augen, wenn es den Weg kreuzt. Es reißt Schafe und Kühe auf den Feldern. Kriegt ihr denn gar nichts mit? Schon mal von Zeitung lesen gehört?"

"Jetzt mach mir doch keine Angst", sagte Mila. "Das ist ein Witz, oder?"

"Nein." Olivia warf ihr einen kurzen Blick zu. "Wir gehen zusammen nach Hause. Aber du..."

"Jetzt lass doch mal", fuhr ich dazwischen und hob die Hände. "Ich fürchte mich nicht vor... Monstern oder wie auch immer du es nennen willst. In null Komma nichts bin ich zuhause und mir wird nichts passiert sein."

"Sicher?"

"Si-cher." Ich rollte mit den Augen, grinste und verabschiedete mich letztendlich von den beiden.

Draußen war es kalt. Mein Atem hinterließ kleine weiße Wölkchen in der Nachtluft und ich kuschelte mich fröstelnd tiefer in meine Jacke. Eigentlich war Winter ganz okay, aber auf die Kälte und die Dunkelheit konnte ich verzichten.

Ich legte ein paar hundert Meter zurück, in denen die Häuser immer vereinzelter wurden und letztendlich kaum noch eines am Wegrand stand, nur noch das ein oder andere Bauernhaus. Als ich den Kopf in den Nacken legte, sah ich die Sterne, die den Himmel maserten wie Sommersprossen - sie waren allerdings das einzige, was in dieser Nacht die Landstraße beleuchtete. Und es war nicht nur dunkel - es war auch unnatürlich still hier. Ich war die einzige, die heute Abend diesen Weg entlangging, doch es kam mir vor, als sei ich auch die einzige Person auf der Welt.

Es war schon irgendwie gruselig.

"Dämlich", murmelte ich, denn es war dämlich, mich zu fürchten. Wer wartete schon hier auf eine Person, die er überfallen konnte? Das war doch total unrealistisch, dass hier überhaupt je jemand vorbeikam. Ich wurde schon so schlimm wie meine Mutter!

Knack.

Ich zuckte zusammen - dann lachte ich. Jetzt hatte ich mir wirklich selbst Angst gemacht. Amüsiert rollte ich mit den Augen und ging weiter.

Knack knack.

Und was war mit Olivias Monster...?

Knack.

Erneut ertönte das Geräusch. Dieses Mal lachte ich nicht mehr, sondern drehte mich um und warf einen Blick über die Schulter. Natürlich war die Straße leer.

Ich wandte mich wieder dem Weg vor mir zu und steckte die Hände in die Taschen, während ich weiterging. Auch wenn ich nichts gesehen hatte und auch wenn ich wusste, dass es eigentlich vollkommen bescheuert war, war mir irgendwie unbehaglich zumute und ich begann mangels einer besseren Alternative leise zu summen, um der Stille ein Ende zu bereiten.

Summte.

Lief.

Sah.

Blieb stehen. Der Atem stockte mir und bliebt in meinem Halse stecken.

Vor mir kreuzte eine schwarze Gestalt den Weg. Die Kreatur - vierbeinig, mit langem, zottigem Fell und etwas größer als ein Meter, blieb vor mir stehen, gerade zwanzig Meter entfernt, und begann mich anzustarren, als sei ich Frischfleisch. Plötzlich war es noch kälter als zuvor. Ruhe vor dem Sturm. Nur mein Herzschlag war lauter als je zuvor. Das Monster, war alles, was ich denken konnte, das Monster!

Das Monster bleckte die Zähne und ich stolperte unwillkürlich einen Schritt zurück, trat von Dunkelheit in Dunkelheit und dann brüllte die Kreatur auf und rannte los, auf mich zu, und ich drehte mich um und stürmte weg. Ich rannte, ohne darüber nachzudenken, wohin und wie und warum, nur weg weg weg.

Weg!

Mein Atem ging schnell und meine Füße flogen über den Asphalt. War ich verrückt geworden? Das konnte nicht real sein - doch ich wusste leider ganz genau, es war sogar mehr als das. Fast meinte ich, den Atem meines Verfolgers in meinem Nacken zu spüren, und ich gab einen erstickten Schrei von mir und wurde noch schneller, jagte über die Landstraße.

Dort! Ein Haus? Ich sprintete darauf zu und schrie schon von weitem ein lautes: "Hilfe! Helfen Sie mir! Hallo!!!" rannte rannte rannte und hörte stürmende Schritte hinter mir, die immer näher kamen, immer, immer näher und bevor ich mich versah hatte ich den Garten erreicht und hechtete über den Zaun, sprang hinter ein paar Europaletten und Tonnen, die sich an einer Schuppenwand stapelten und suchte Schutz dahinter. Die Bestie war mir dicht auf den Fersen gewesen, doch sie konnte nicht so hoch springen wie ich und blieb auf der anderen Seite des Gerümpels zurück. Wimmernd sah ich zu, wie es versuchte, durch die Lücken zugelangen, wie seine scharfen Zähne nach mir schnappten und ihm Geifer von der Schnauze tropfte. "HILFE!", rief ich wieder und hoffte, jemand befand sich im Haus. "Bitte!"

Ein Schuss zerriss die Luft und ließ mich heftig zusammenzucken. Die Bestie jaulte auf, dann wankte sie, wich zurück und ging zu Boden. Ich starrte den reglosen Körper noch immer schwer atmend und schockiert an, als ein Licht am Schuppen eingeschaltet wurde und ein Mann sich näherte. "Alles in Ordnung?", fragte er und legte das Gewehr zur Seite, um mir auf und hinaus zu helfen. "Bist du verletzt?"

"N-nein", stammelte ich. "Bestie..."

Ich war auf den Beinen. Atemlos senkte ich den Blick auf den toten Körper - denn ich wollte wissen, welches Wesen mich da angegriffen hatte, welche schreckliche Kreatur Tiere riss und ihr Unwesen hier trieb und jetzt hier ihr Ende gefunden hatte.

Erst als ich das Tier jetzt betrachtete, wurde mir klar, dass es nur ein streundender Hund gewesen war.

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