"Was ist das hier?"
Ich legte - okay, ich knallte das Blatt Papier vor Papa auf den Tisch. Er hob den Blick von seiner Schreibarbeit an seinem Computer, musterte mich über den Rand seiner Lesebrille und wandte sich dem Bild zu, als er meinen abwartenden Blick auffing. Kurz darauf rollte er mit dem Schreibtischstuhl zurück und sah mich wieder an. "Wo hast du das gefunden, Flo?"
"Ich hab mir deine Fotoalben angesehen." Ich hatte wütend sein wollen - wütend, dass er mir diese Zeichnung vorenthalten hatte und wahrscheinlich auch vorgehabt hatte, es für die nächsten Jahre dabei zu belassen, doch dieser Satz klang viel zu weich, er musste so klingen. Weil dahinter die Aussage stand, dass ich für einen Augenblick in der Zeit zurückgereist war, um mir noch einmal das Damals anzusehen - bevor meine Eltern sich getrennt hatten und alles noch harmonisch und unkompliziert gewesen war.
Papa seufzte und deutete auf den Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite. "Setz dich mal bitte."
Ich nahm auf dem Stuhl Platz und mein Blick fiel auf das Bild zwischen uns. Dunkle, dicke Striche füllten das Blatt, von Kinderhänden gezogen. Gezeichnet hatte ich schon immer gerne. Und wenn ich dieses Bild betrachtete, durchzuckte mich eine schwache Erinnerung - nur vage, als hätte ich verdrängt, es gemalt zu haben.
Konnte ich verstehen.
"Hast du dich je gefragt, warum ich damals so schnell zweimal hintereinander umgezogen bin?", fragte Papa.
Ich zuckte mit den Schultern. "Schieß los."
"Du warst damals noch sehr klein", begann er zu erzählen. Dabei nahm er seine Lesebrille ab und faltete sie zusammen, legte sie mit einem nachdenklichen Blick auf den Tisch. "Es war nicht mal ein Jahr nach der Trennung. Wie alt warst du da - drei?"
"Kann hinkommen." Ich schüttelte mir die braunen Haare aus der Stirn.
"Deine Mutter war gerade mit Carlos zusammen gekommen", fuhr er fort. "Du kannst dir vorstellen, dass ich ihn nicht mochte, nehme ich an. Aber deine Mutter war sehr verliebt damals und auch du schienst kein Problem mit ihm zu haben."
Ich mochte Carlos tatsächlich, auch wenn seine Hochzeit mit Mama vor gar nicht allzu langer Zeit einen bitteren Nachgeschmack hinterließ, wenn ich an meine "echte" Familie dachte, die ich hätte haben können, wenn Mama und Papa sich verstanden hätten. Es fiel schwer, Carlos nicht zu mögen - er war wirklich sympathisch und da er 13 Jahre lang fast jeden Tag da gewesen war, war er mir ans Herz gewachsen. Bei Papa war ich viel seltener als bei ihm - das bedeutete aber nicht, dass er nicht mein richtiger Vater war.
"Es war an einem Wochenende und du saßt in der alten Wohnung auf dem Wohnzimmerboden und hast gemalt." Dad lächelte. "Deine Stifte durften ja nie fehlen. Irgendwann habe ich mich zu dir gesetzt und gefragt, ob ich deine Bilder sehen darf. Du hast mir alle deine Drachen und Ritterburgen und Prinzessinnen gezeigt." Jetzt lächelten wir beide, doch es verblasste uns, als Papa fortfuhr: "Und dann kam dieses Bild." Er warf einen weiteren Blick darauf. "Asesino", murmelte er.
Ich sagte: "Mörder."
Das ganze Blatt war mit dem Wort gepflastert. Asesino, asesino... es füllte die Seite so weit aus, dass es kaum noch freie Stellen gab. In der Mitte stand eine schwarze Gestalt mit roten Augen, die den Betrachter finster anstarrte, eine Hand erhoben und auf ihn gerichtet. Wie gesagt - gezeichnet hatte ich schon immer gern.
"Aber wie?", fragte ich. "Ich war noch so klein, ich konnte noch gar nicht schreiben... schon gar nicht auf Spanisch."
"Das dachte ich auch", sagte Papa. Ich konnte mir vorstellen, wie es ihm ergangen sein musste, als er die Zeichnung gesehen hatte. "Kannst du dir denken, wen ich verdächtigt habe?"
"Carlos", schlussfolgerte ich.
"Er kommt schließlich aus Spanien", bestätigte Papa. "Als ich ihn damit konfrontierte, stritt er ab, dir das Wort beigebracht zu haben. Deine Mutter hat es auch mit der Angst zu tun bekommen und bat mich am Telefon, dich zu fragen, warum du das geschrieben hast. Sie hat sich Sorgen gemacht und ich auch."
Ich starrte das Bild an. "Was ist dann passiert?"
"Ich habe dich darauf angesprochen." Er betrachtete mich. "Und du meintest... die Frau, die mit dir im Wohnzimmer war, hätte es die ganze Zeit gesagt."
Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Bildete ich mir das ein oder erinnerte ich mich daran? Die Gestalt auf dem Bild...
"Wir wussten immer noch nicht, warum du es schreiben konntest... das weiß ich bis heute nicht", sagte Papa leise. "Alles, was ich weiß, ist, dass ich einige daraufhib Nachforschungen betrieben habe... und in der alten Wohnung wurde tatsächlich eine Spanierin getötet. Das war lange her, so dass selbst der Vermieter nichts von der Geschichte gewusst hat. Aber in einem kannst du dir sicher sein - ich bin danach nichts wie weg."
"Ich erinnere mich kaum daran...", murmelte ich.
"Du hast danach auch nie wieder davon gesprochen. Ich hatte gehofft, es wäre das Beste, auch darüber zu schweigen... diese Geschichte war viel zu verwirrend, viel zu unerklärlich. Und du warst so klein."
Unerklärlich war das richtige Stichwort - denn das war es allemal. Ich betrachtete das Bild, die düstere Gestalt, die mit Kinderhand gezeichneten Linien, Asesino, asesino... und ich versuchte, zu begreifen. Hatte ich wirklich einen Geist gesehen? Wie hatte ich das Wort schreiben können? Und vor allem, warum konnte ich mich nicht richtig daran erinnern? Das musste ich erstmal verkraften.
"Tut mir Leid, dass ich dir nichts davon gesagt habe", sagte Papa.
"Schon in Ordnung. Kann ich verstehen", erwiderte ich ehrlich.
Er schwieg einen Augenblick. "Kannst du es dir erklären?", fragte er dann zögernd.
Und ich schüttelte den Kopf. "Ich wünschte, ich könnte."

DU LIEST GERADE
Halloween Countdown
Misterio / Suspenso{ Darfst du auch nach Halloween gerne noch lesen :D } ~Willkommen, ihr Nachtschwärmer! Ganz recht, die Zeit der offenen Friedhofstore und düstren Mächten, sie rückt heran! Noch eh der Mond ein halbes Mal wiedergeboren ist, schließt sich der Kreis u...