Fast vergessene Zeiten

291 19 3
                                    

~Hier nun also ein erste kleine Portion Schaurigkeit für jene unverdrossene Abenteurer und Schattenkriecher, die der Mut bis hier noch nicht verlassen hat.

Doch seid gewarnt: Nichts im Leben ist stets so, wie es scheint...~



Es war ein klirrend kalter Herbsttag, und obwohl sie sich so viel lieber mit einer Tasse heißem Tee in der Hand und ihrem Computer auf dem Schoß in ihr Zimmer verkriechen wollte, hatte Johanna sich zu einem Spaziergang entschlossen. Der Wind brauste bei jedem ihrer Schritte so stark um ihre Beine herum, dass sie immer wieder anhielt, um nicht in das matschige Laub auszurutschen. Nur ab und zu durchbrach die ein oder andere Pfütze ihre Gedanken, wenn sie unter ihren Gummistiefeln platschend in kleine Wellen zerscherbte.

Johanna war fünfzehn, und, als ob das nicht schon Stress genug wäre, Scheidungskind. Eigentlich hatte sie gedacht, alles würde einfacher werden, wenn ihre Eltern nur endlich getrennt lebten, doch an Tagen wie diesem schien das Universum sie für ihren verfrühten Optimismus strafen zu wollen. Ihr Vater hatte den ganzen Nachmittag damit zugebracht, ins Telefon zu brüllen, weil es mal wieder irgendwelche Unstimmigkeiten wegen des Sorgerechts gab. Sie strich sich eine kurze, helle Haarsträhne aus den Augen und schnaubte. Manchmal fühlte sie sich, als würden ihre Eltern sie einfach als Vorwand ausnutzen, um sich weiter streiten zu können. Irgendwann, am Ende der langen, schlecht asphaltierten Straße am Wald, in dessen Nähe sie aufgewachsen war, erreichte das Mädchen die kleine Kneipe, in der ihr Lieblingsonkel arbeitete. "Johanna! Na, hast du jetzt erst Schulschluss? Wie wäre es mit einer Cola?" begrüßte sie Michel, der gutmütige Kollege ihres Onkels, der immer mal wieder als Wirt einsprang, wenn dieser sich mit Freunden zum Bowling traf. Michel war Ende dreißig, immer gut gelaunt und auch gerne mal bereit, seiner Lieblingskundin Johanna Getränke zu spendieren, wenn sie nach einem stressigen Tag hier vorbeikam. Ansonsten war, wie üblich, kaum jemand in der gemütlichen Spelunke, da waren nur Michel, der Gläser putzte, und, am Ende des Tresens, ein älterer Herr mit langem, verfilztem Bart und schmutziger Kleidung. Als Johanna näher kam und sich ans andere Ende der Theke setzte, bemerkte sie, dass der Mann mit ausdruckslosen Augen in sein Glas starrte und vor sich hin murmelte. Sie fragte sich gerade ob er wohl ein Obdachloser war, und warf ihm einen verstohlenen Blick zu, da hob er den Kopf und fing an, unbeherrscht und laut zu lachen. Kaum war Michel wieder aus dem Hinterzimmer hervor gekommen, in dem er gerade einige Kisten gelagert hatte, da verfiel der seltsame Mann auch schon abrupt wieder in seinen unverständlichen Monolog zurück. Nervös wand Johanna sich ab und widmete sich wieder ihrer Cola, der Alte war offenbar nicht ganz dicht und ihr ganz und gar nicht geheuer.Eigentlich wollte sie längst gehen, hatte aber auch keine sonderliche Lust, sich dem Dauerstreit zu Hause zu stellen, da ging, um etwa halb sechs, die Tür auf, und ein Junge in ihrem Alter brachte einen Schwall kalter Luft aus der Dämmerung von draußen mit hinein.

Nur, dass es nicht irgendein Junge war. Der dunkelhaarige Jugendliche, der sich nur wenige Meter vor ihr aus seiner Regenjacke schälte, war niemand anders als ihr ehemaliger Kindergartenfreund, Vincent. Vincent, den sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, aber immer irgendwie vermisst hatte, und den sie jetzt, nach so langer Zeit, immer noch an den selben schönen und ungewöhnlichen Locken wieder erkannte. "Vinni? "fragte sie aufgeschreckt, und der Junge blickte sie an. Eine Sekunde lang schien Verständnislosigkeit über sein Gesicht zu huschen, dann begann er zu strahlen und umarmte sie, wenn auch etwas verlegen. Wie sich heraus stellte hatte Vincent, nachdem er damals weggezogen war, öfters mal Schwierigkeiten in der Familie gehabt und, genau wie sie, die Trennung seiner Eltern durchgemacht. Er erzählte Johanna bei einer weiteren Cola von seinen Scheidungs-Erfahrungen, bescheuertem Streit wegen Geld und und und, wobei er genau so witzig und locker war, wie sie ihn sich immer vorgestellt hatte. Es war unglaublich, wie viel sie gemeinsam hatten, und wie viel sie, nach all der Zeit noch mit einander verband. Das einzige, was das Wiedersehen störte, waren hin und wieder die aufdringlichen Blicke und das Grinsen des vermeintlich obdachlosen Mannes an der Bar; und die Anrufe von Johannas Vater, der vermutlich wissen wollte, wo sie so spät noch blieb, aber sie drückte sie weg, das hier war wichtiger.

Irgendwann aber war es Zeit zu gehen, und Johanna und Vincent machten sich in der Dunkelheit auf den Weg, doch bald schon mussten sie sich erneut verabschieden. Johanna ging überglücklich, aber auch mit einem seltsamen Gefühl in der Magengrube nach Hause. Hin und wieder glaubte sie, Schritte hinter sich zu hören, oder gar das seltsame Gegacker des Fremden aus der Kneipe. Der Wind brauste in den Bäumen und ließ sie ächzen, als würden die Schatten darin aus der Dunkelheit nach dem Mädchen rufen... Die Panik und das Gefühl, verfolgt zu werden, ließen sie nicht mehr los, und Johanna fing an, das letzte Stück des Weges zu rennen...

Zu Hause angekommen ließ sie sich erschöpft gegen die Haustür sinken. Was war nur los mit ihr, sie war doch sonst nicht so paranoid?

Erst, als sie ihrem Vater von ihrer Begegnung mit Vincent erzählt hatte, sollte Johanna begreifen, warum sie dieses Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, nicht losgelassen hatte.

Ihr Vater rieb sich die Schläfen und sah sie unentwegt bedauernd an. "Jojo, ich möchte, dass du mir jetzt gut zuhörst, in Ordnung? Der Junge, den du meinst, gesehen zu haben, war nicht Vincent, das ist unmöglich." Johanna fing an zu frösteln und konnte selbst nicht genau sagen, wieso. "Das was wir dir damals erzählt haben, dass Vincent weggezogen ist, das stimmte nicht ganz, du warst einfach noch so klein, wir...deine Mutter und ich...wir wollten nicht, dass du es je erfahren musst... Seine Eltern sind damals weggezogen, nachdem der kleine Vincent nach einem Autounfall ums Leben gekommen ist..."

Johanna schwankte. Das ergab alles keinen Sinn. Vincent hatte mit ihr gesprochen, hatte sie wieder erkannt, und er hatte...

Entgeistert zog sie ein zerknittertes Blatt Papier aus der Tasche, ein Wachsmalstiftebild von ihr an ihn, gemalt, als sie fünf Jahre alt war. Sie hatte ihm einige solcher Bilder in Briefen geschickt, nur hatte er nie zurück geschrieben. Jetzt hatte er den Zettel gefaltet in seiner Brieftasche bei sich gehabt... Warum eigentlich? Warum stimmte alles an ihm so perfekt mit Johannas Vorstellung von ihm überein? "Unglaublich, wie viel wir gemeinsam haben" schoss es ihr wie ein Echo erneut durch den Kopf... Ihr Vater schien ebenso verwirrt wie sie selbst, und nahm, mit zitternden Fingern und ganz bleich im Gesicht, das Papier entgegen. Dann stand er auf und kramte einen der vielen Schlüssel an seinem Schlüsselbund hervor, um eine der Schubladen der Wohnzimmerkommode zu öffnen. Die Schublade, in der die meisten Kindheitsbilder Johannas aufbewahrt waren, und, in der ganz zu unterst, diese kleinen Briefe und Bilder an Vincent sein sollten... sie war leer in dieser Nacht..

Jemand hatte alles darin fort genommen..


Halloween CountdownWo Geschichten leben. Entdecke jetzt