Samstagabend nach einer mehr als über-langen Woche. Darauf hab ich mich schon die ganzen letzten Tage gefreut. Ich und mein bester Freund Ben, den ich schon seit dem Kindergarten kenne, wollten uns gemütlich vor die Glotze setzen, Popcorn futtern und uns durch die ewig langen Tele-shopping-Kanäle schalten. Wir versuchen momentan herauszufinden, welcher sich am besten dazu eignet, von uns analysiert zu werden. Es gibt für mich ehrlich gesagt nichts witzigeres auf der Welt, als sich mit Ben über schrottige Fernseh-Sendungen lustig zu machen und aufzuregen.
Heute jedoch fällt das leider flach. Meine Mutter hat mich gebeten, endlich mal den Dachboden unserer Garage auszumisten, das heißt, den kleinen Teil, den sie bisher komplett unberührt gelassen hat, weil sich auch alle möglichen Tagebücher meiner Kindheit in so mancher Kiste wieder finden lassen. Meine Mutter ist da zum Glück wirklich rücksichtsvoll. Oder aber, sie wollte einfach weniger zu tun haben.
Kurzerhand sind Ben und ich also heute nachmittag auf unseren Dachboden geklettert, und haben alle Kisteninhalte auf dem Boden verteilt. Das sieht nach Arbeit aus. Wir sind schon einige Stunden lang dabei, uns durch alte Grundschulmappen und gemeinsame Kinderfotos zu arbeiten, als Ben der Mund offen stehen bleibt. Lachend starrt er auf das Buch in seinen Händen und sagt "Glenna, das hier musst du dir ansehen!" Ich mache, neugierig geworden, einen Boden um unseren großen Krims-Krams-Stapel herum, um das Buch über seine Schulter sehen zu können. Kichernd streckt Ben einen seiner dünnen, länglichen Finger aus und deutet auf die Überschrift. "Na, klingelts?"
Es klingelt tatsächlich. Das Buch heißt "Der Struwwelpeter" und ist eins der wohl bekanntesten uralten deutschen Kinderbücher. Ich und Ben mussten es als wir klein waren auch über uns ergehen lassen, und das Thema unserer ersten Unterhaltung, dem Grundstein unserer Freundschaft, war damals, mit fünf, unser großer gemeinsamer Hass auf dieses Buch gewesen.
"Achja, das!" gluckse ich und reiße das Buch an mich, als ich neben ihm wieder auf den Teppich sinke. "Wollen wir doch mal sehen..Welche dieser Geschichten soll man da nur am bescheuertsten finden?"
"Fragen über Fragen..." sinniert Ben neben mir grinsend. "Wie wärs mit dieser Streichhölzer-Sache, wo die Katzen am Ende so heulen?" Ich blättere die Seite um, und verdrehe beim Anblick der heftigen Zeichnungen gleich die Augen. In der Zeit, in der dieses Buch entstanden ist, bestand Erziehung vor allem aus einer Menge Angstverbreitung. Man erzählte seinen Kindern grausame kleine Märchen darüber, was passiert, wenn man zu viel in die Luft guckt oder seinen Teller nicht auf isst oder-...
"Oh nein! Nicht das!" stöhnt Ben und hält sich die Hände vors Gesicht. Ich verstehe sein Problem, ich fand die Daumenlutsch-Geschichte ja auch immer am Schlimmsten.
Es geht um diesen kleinen Jungen, der seine Mutter immer damit nervt, dass er so viel am Daumen lutscht. Aber dann, als sie mal wegfährt, und er sich in Sicherheit wiegt, macht er es wieder, und ein Typ kommt mit einer Riesen-Friseur-Schere vorbei und schneidet dem kleinen zur Strafe beide Daumen ab. Ende.
Wie gesagt, Ben und ich fanden die Geschichte schon immer dämlich.
"Sag mal, Glenna? Hast du es eigentlich danach nochmal gemacht?" fragt er mich plötzlich mit etwas rauer, torloser Stimme. Ich reagiere verwirrt. "Was gemacht? Wonach?"
"Hast du es denn wirklich schon wieder vergessen? Damals, im Kindergarten? Der Daumen-Schwur?!"
Mir fällt es plötzlich wieder ein, wir haben uns ja damals etwas geschworen! Unten, im Sandkasten, als alle anderen Kinder gerade beim Mittagessen waren, da haben wir uns geschworen, nie mehr am Daumen zu lutschen, wenn wir ganz allein sind, einfach aus Sicherheitsgründen.
Ich kichere bei diesem albernen Gedanken, aber Bens Stirn hat sich in Falten gelegt. Dann sagt er: "Weißt du was, ich finde, wir sollten das mal machen. Irgendwie ist mir gerade, nur beim Anblick dieses Buches, ein Schauer über den Rücken gelaufen, echt peinlich! Wir sollten uns klar machen, wie bescheuert das alles ist."
Langsam übertreibt er, finde ich. Ist doch nur ein alter Kinderglaube, ein ziemlich unlogischer noch dazu.
Später am Abend, als Ben längst weg ist, liege ich in meinem Bett und denke nach. Irgendwie hat mich dieser blöde Glaube damals ernsthaft davon abgehalten, etwas zu tun, was ich als Kind echt gerne gemacht hab. Eigentlich ist Bens Idee gar nicht so schlecht.
Langsam forme ich mit meiner rechten Hand einen Daumen nach oben. Ich lausche ins Dunkel hinein. Mein Finger berührt meinen Mund, und dann, ganz langsam beginne ich, wie ein Kleinkind am Daumen zu lutschen. Es ist irgendwie echt witzig. Bis ich in meinem dunklen Zimmer etwas knacken höre. Und einen Augenblick später glaube, direkt neben mir etwas bedrohlich atmen zu hören.
Gerade, als ich panisch werden will, -
Geht die Tür auf, und meine Mutter kommt herein, mit hysterischen Ausdruck und Tränen im Gesicht.
"GLENNA. Es ist was passiert. Ben hatte einen Unfall, seine Mutter hat es mir gerade gesagt! Er hat sehr viel Blut verloren, und er könnte einen Teil seiner Hand verlieren!"
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Halloween Countdown
Misteri / Thriller{ Darfst du auch nach Halloween gerne noch lesen :D } ~Willkommen, ihr Nachtschwärmer! Ganz recht, die Zeit der offenen Friedhofstore und düstren Mächten, sie rückt heran! Noch eh der Mond ein halbes Mal wiedergeboren ist, schließt sich der Kreis u...