Zugegeben, das Waisenhaus, das unter der Leitung von Mrs. Carol stand, war mit anderen Einrichtungen dieser Art nicht zu vergleichen. In vielen Waisenhäusern herrschten unzumutbare Zustände. Kinder stritten sich mit anderen um die knappen Mahlzeiten. Niemand kümmerte sich um ihre Ängste und Wünsche. Vielerorts waren die Kinder einfach nur gesichtslose Insassen, in zugigen Unterkünften, in denen sie in riesigen Schlafsälen um ein bequemes Plätzchen kämpften. Dort herrschte keine Herzlichkeit, keine Liebe. Nur Tristesse und Traurigkeit und das endlose Warten auf ein besseres Leben außerhalb dieser kaltherzigen Mauern.
Doch nicht bei Mrs. Carol. Sie hatte ihre Kindheit selbst in einem solchen Haus verbracht und sich geschworen, später einmal ein Waisenhaus zu errichten, in dem sich elternlose Kinder nicht wie in einem Gefängnis vorkamen. In ihrem Haus sollten Fröhlichkeit und Hoffnung herrschen.
Wer zu Mrs. Carol kam, hatte das Glück stets mit warmen Mahlzeiten und größter Herzlichkeit versorgt zu werden. Die Einrichtung finanzierte sich hauptsächlich aus Spenden. Doch trotz der knappen finanziellen Mittel, die ihr zur Verfügung standen, sorgte sie sich mit großer Aufmerksamkeit um jedes einzelne ihrer Kinder und las ihnen vor dem zu Bett gehen Geschichten vor. Alle Flure und Wände waren in bunten Farben gestrichen und von Kinderzeichnungen übersät. Auch in den vielen kleinen, aber gemütlichen Zimmern ging es farbenfroh zu. Wenn ein neues Kind ein Zimmer bezog, durfte es sich aussuchen, ob es die Farbe behalten wollte, oder ihm eine andere lieber war. Dann wurde den ganzen Nachmittag mit vereinten Kräften und vielen kleinen Pinseln und Rollen gestrichen, was das Zeug hielt. Auch für die anderen Kinder war das jedes Mal ein richtiger Spaß. Jedes Kind hatte sein eigenes kleines Reich und wenn am Tag die Fenster geöffnet waren, konnte man von drinnen das Lachen der Kinder bis auf die Straße hinaus vernehmen. So mancher, der an dem alten, leicht baufälligen Backsteingemäuer vorbeikam, fühlte sich automatisch von der positiven Ausstrahlung des Hauses angezogen und es kam nicht selten vor, dass Kinder schon bald nach einem solchen Besuch ein wundervolles neues zu Hause fanden. Selbstverständlich achtete Mrs. Carol darauf, dass es ihren Schützlingen bei den neuen Eltern gut ging. Nur ganz selten kehrte ein Kind zurück. Dann wurde es genauso herzlich wieder in den Kreis der anderen Kinder aufgenommen, wie es von ihnen verabschiedet wurde und mit viel Liebe ermuntert die Hoffnung nicht aufzugeben.
Mrs. Carol bemühte sich auch um eine Grundbildung und lehrte die Kinder Lesen und Schreiben sowie ein wenig Mathematik. Zur Schule konnte sie die Kinder nicht schicken, da das Geld für die Schulgebühren für jedes einzelne Kind nicht reichte. Manchmal kamen ein paar Lehrer ehrenamtlich zu ihnen und unterrichteten sie auf unterschiedlichen Gebieten. Aber das kam höchstens einmal im Monat vor und es war schwierig Dinge zu vermitteln, die auch alle verstanden. Denn in Mrs. Carols Waisenhaus lebten Kinder jeden Alters, vom ersten bis zum 18. Lebensjahr.
Das Leben in ihrem Haus fühlte sich fast an, wie in einer großen Familie, in der jeder auf den anderen Acht gab. So halfen die älteren Kinder ihr bei der Hausarbeit und in der Küche. Danach spielten sie mit den jüngeren oder halfen Mrs. Carol ihnen etwas beizubringen.
Auch Geburtstage wurden zusammen gefeiert. So bekam jedes Kind an seinem Ehrentag einen Wunsch erfüllt. Doch mindestens genauso häufig wurden auch Abschiede gefeiert, wenn eines der Kinder das Waisenhaus verließ und zu seinen neuen Eltern zog. Auch an diesem Tag wurde ein solches Fest vorbereitet. Die Kinder waren bereits den ganzen Tag aufgeregt um das Mädchen herumgelaufen, das sie am kommenden Morgen verlassen würde. Für alle war sie so etwas wie eine große Schwester, die sie nur ungern gehen lassen wollten.
Das Mädchen war groß, mit schimmernden topasblauen Augen und goldblondem Haar, das ihr seidig über die Schultern bis auf den Rücken fiel.
Ein Mädchen mit langen braunen Zöpfen und einem blassrosa Kleidchen zupfte an ihrem Rock und sah sie fragend an.
DU LIEST GERADE
The Story of Alice
FantasyVom Tag ihrer Ankunft auf dem Landsitz an, hatte sie das Gefühl, dass ihrer beider Schicksale miteinander verwoben waren. Doch sie hatte nicht geahnt, auf welche Weise. Sie musste sich eingestehen, dass sie sie unterschätzt hatte. Sie hatte Alice nu...