Nach dem Frühstück verabschiedete sich Alice noch einmal von Mary und Mrs. Carol. Die Kinder liefen aufgeregt um sie herum und folgten ihr auf Schritt und Tritt. Einige von ihnen hatten sogar versucht Alices Koffer zu verstecken. Doch nach einigem Hin und Her hatten sie ihn ein wenig niedergeschlagen doch wieder herausgegeben.
Draußen vor der Tür wartete bereits das Taxi, das Alice zu ihrem neuen Arbeitsplatz bringen sollte. Ein wenig wehmütig schritt sie die wenigen Stufen hinab auf den Gehsteig und übergab dem Taxifahrer ihren Koffer. Dann drehte sie sich noch einmal um. Hinter ihr hatten sich die Kinder versammelt, um sie zu verabschieden. Ein paar der kleineren hatten zu weinen begonnen. Nur Benni, der sich gerade zwischen den anderen Kindern hindurchzwängte sah gut gelaunt aus. Er hatte einen kleinen Plastikkoffer in der Hand und marschierte direkt auf das Taxi zu.
"Ich komme mit", verkündete er entschlossen. Alice gelang es gerade noch ihn davon abzuhalten tatsächlich auf den Rücksitz des Taxis zu klettern.
"Benni das geht aber doch nicht", sagte sie und kniete sich zu ihm hinunter.
"Warum nicht?", fragte Benni und sah Alice mit großen Augen an. Seine kleine Hand klammerte sich um den Griff seines Plastikkoffers. Alice sah, dass es ihm nicht leicht fiel loszulassen.
"Na, wenn du weggehst, dann haben die anderen doch niemanden mehr, der sie beschützt."
Eine Träne rann seine Wange herunter, dann noch eine. Schließlich ließ er den Plastikkoffer zu Boden fallen und klammerte sich an Alice. Sie drückte ihn an sich und streichelte ihm vorsichtig über den Kopf, bis er sich ein wenig beruhigt hatte.
"Versprichst du mir, dass du auf die anderen aufpasst?", fragte sie leise.
Benni nickte und wischte sich mit dem Ärmel seines T-Shirts über die geröteten Augen.
"Piraten-Ehrenwort?", fragte Alice und lächelte ihn an.
"Piraten-Ehrenwort", schluchzte Benni und versuchte sich ebenfalls an einem leicht schiefen Lächeln.
Alice erhob sich wieder und strich Benni noch einmal aufmunternd über die Wange, bevor dieser zu den anderen Kindern zurücklief. Der Fahrer des Taxis hielt ihr die Tür auf.
"Pass gut auf dich auf", rief Mrs. Carol.
"Keine Sorge, das mache ich", entgegnete Alice.
Dann war es Zeit, endgültig Abschied zu nehmen. Ein wenig Wehmut schlich sich nun auch in ihr Herz. Sie setzte sich auf den Rücksitz des Taxis und kurbelte das Fenster herunter. Als der Fahrer den Motor startete, zog sich Alice Brust ein klein wenig zusammen. Die Kinder riefen Abschiedsworte und winkten ihr nach, bis das Auto an der nächsten Kreuzung um die Ecke verschwand.
Nun war es also wirklich vorbei. Das Waisenhaus und die Kinder waren in nur einem Moment zu ihrer Vergangenheit geworden. Zu einer Erinnerung, die sie in ihrem Herzen einschloss wie einen kostbaren Schatz und die sie hüten würde, bis sie eines Tages an diesen Ort zurückkehrte. Doch nun war es erst einmal Zeit nach vorne zu blicken.
Ihre Zukunft lag etwa eine Stunde entfernt, bei ihren neuen Arbeitgebern, der neureichen Familie Red. Viel wusste sie nicht über die Familie oder das Anwesen. Mrs. Carol hatte ihr die Anstellung als Zimmermädchen verschafft. Wie sie das geschafft hatte, wusste nur der Himmel allein, denn Alice war sich sicher, dass eine reiche Lady wie Mrs. Red nicht einfach jeden für sich arbeiten ließ. Umso mehr musste sie darauf achten, sich keinen Fehltritt zu erlauben. Schließlich wollte sie Mrs. Carol nicht in Verlegenheit, oder schlimmer, gar in Verruf bringen.
Bald verließen sie die Stadt und herrlich grüne Wiesen zogen am Fenster vorbei. Jetzt im Frühling begann alles aus seinem tiefen Kälteschlaf zu erwachen und die Bäume brachten saftig grüne Blätter und erste kleine Blüten hervor. In der Ferne zeichnete sich eine Bergkette ab, deren Kuppen die Wolken zu berühren schienen. Manchmal lag dort auf den Spitzen bis ins späte Frühjahr noch Schnee. Alice hatte sich oft gewünscht, sie hätten das Geld für einen Ausflug gehabt. Dann hätten sie dort Schlitten oder Ski fahren können. Das hätte den Kindern sicher gefallen.
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The Story of Alice
FantasyVom Tag ihrer Ankunft auf dem Landsitz an, hatte sie das Gefühl, dass ihrer beider Schicksale miteinander verwoben waren. Doch sie hatte nicht geahnt, auf welche Weise. Sie musste sich eingestehen, dass sie sie unterschätzt hatte. Sie hatte Alice nu...