„Du kannst wieder zurück in den Unterricht gehen, ich komme klar", versuchte ich Ben abzuwimmeln.
Er grinste und schüttelte den Kopf. „Ganz sicher nicht. Ansonsten gehst du da doch nicht hin."
Er hatte Recht. Das Krankenzimmer war der letzte Ort, an dem ich jetzt gerne sein würde.
„Wieso weigerst du dich so sehr?", wollte er von mir wissen, aber ich schwieg. „Bist du einfach nur stur? Oder hast du etwa Angst vor Ärzten?"
Seine letzte Äußerung sollte wahrscheinlich nur scherzhaft gewesen sein, doch er lag richtig. In meinem Blick musste sich etwas verändert haben, da er mich ansah und seine Augen sich leicht weiteten.
„Du hast wirklich Angst vor Ärzten?"
Da er sowieso schon herausgefunden hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als zu nicken.
„Oh", machte er nur, bevor er kurz nachdachte. „Du brauchst dich nicht zu fürchten. Sie wollen dir doch nur helfen, genau wie ich. Wegen diesem Finger wirst du schon keine überdimensionale Spritze bekommen, wenn es das ist, was dich stört. Sie werden sich ihn nur ansehen, ihre Diagnose fällen und dann bekommst du einen Verband oder so etwas Ähnliches."
Trotz Bens Versuchen, meine Angst zu verjagen, wollte ich immer noch umkehren. Schon lange fühlte ich mich unwohl, wenn ich zu einem Arzt musste. Allein der Geruch nach Desinfektionszeug reizte meine Nase. Die aufgesetzte Freundlichkeit war leicht durchschaubar, schon als kleines Kind realisierte ich, dass ihnen nichts an ihren Patienten lag und sie nur ihre Arbeit im Kopf hatten.
„Hörst du mir eigentlich zu?", grinste Ben
Erschrocken bemerkte ich, dass wir fast bei dem Krankenzimmer angekommen waren.
„Ehm", stotterte ich. „Ich muss mal ganz kurz aufs Klo."
Ben sah mich zweifelnd an. „Also das Lügen musst du wirklich noch üben!"
Ich bedachte ihn mit einem finsteren Blick, der ihn auflachen ließ.
„Komm schon, es ist nur dein Finger, der untersucht wird. Außerdem bin ich ja noch da, um deine Hand zu halten", erklärte er dann mit einem Zwinkern.
Da ich erkannte, dass ich es nicht schaffen würde, von hier wegzukommen, ließ ich mich ergeben von ihm durch die Tür in den kleinen Raum führen, in dem eine Blondine saß, die aufschaute, als wir ihr Zimmer betraten.
„Ist etwas vorgefallen?", fragte sie und musterte uns besorgt. Auf jeden Fall sah es besorgt aus. Ob sie es wirklich war würde wohl ihr Geheimnis bleiben, obwohl meine Vermutung schon feststand.
Natürlich sprach Ben für mich. „Ich fürchte, ihr rechter Zeigefinger ist stark geprellt. Mindestens."
Die Schulärztin nickte wissend und stand von ihrem Platz an einem großen Schreibtisch mit Computer auf, um zu mir herüber zu kommen. „Zeig mal her." Nicht so sanft wie Ben vorhin nahm sie Hand und sah sich meinen Finger genau an. Schon etwas vorsichtiger drückte sie dann schließlich ein wenig meinen Finger.
Obwohl es schmerzte, konnte ich mich beherrschen. Lediglich meine unverletzte Hand verkrampfte ich.
„In Ordnung", sagte sie schließlich, nachdem sie mit dem Abtasten fertig war. „Der Finger ist verstaucht. Am besten schonst du ihn erst einmal. Ich schreibe dir eine Entschuldigung für den Sportunterricht und verbinde deinen Finger, wenn du noch einen Moment Geduld hast."
Ich nickte nur und setzte mich auf den Stuhl, den sie mir anbot.
„Siehst du, alles nicht so schlimm", hörte ich Ben neben mir, das Lächeln deutlich hörbar.
Meine Antwort war ein Augenverdrehen.
Nach weniger als einer Minute kam die Ärztin mit einer Mullbinde in der Hand zurück. Mit dieser verband sie meinen Zeigefinger mit meinen Mittelfinger, um ihn zu stabilisieren. Davor allerdings hatte sie mir eine kleine Schiene angelegt. Beides bewirkte, dass mein Finger nun ziemlich dick und klobig wirkte und der Verband ziemlich auffiel.
Ich seufzte resigniert, da mir klar wurde, was auf mich zukam, wenn ich das Tante Rebecca erklären müsste.
Brav bedankte ich mich bei der Ärztin und verschwand schnell aus dem Krankenzimmer, Ben im Schlepptau.
„Willst du nach Hause gehen?", fragte er mich.
Ich schnaubte. „Nur wegen einem verstauchten Finger?"
„Na ja, ich habe gesehen, dass du Rechtshänderin bist. Schreiben könnte also schwierig werden. Und auch das Zeichnen."
Mir wurde bewusst, wie Recht er hatte. Der verstauchte Zeigefinger würde mir eine unfreiwillige Auszeit in Sachen Zeichnen verschaffen.
„Hm", machte ich wenig einfallsreich. „Ich finde schon eine Lösung."
An Bens Blick konnte ich erkennen, dass er sich da nicht ganz so sicher war. Mit großen Schritten machte ich mich auf den Weg zur Sporthalle, der wir nicht näher gekommen waren, weil wir vor der Krankenzimmertür stehen geblieben waren. Erst fiel Ben ein wenig zurück, holte jedoch schnell wieder auf.
Bei der Sporthalle gingen wir gleich zu unserem Lehrer, der wissen wollte, was die Ärztin gesagt hatte.
„Sie hat einen verstauchten Finger und sollte sich schonen. Vielleicht wäre es besser, wenn sie nach Hause geht", antwortete Ben unverschämter Weise für mich.
Ich sah ihn von der Seite her böse an. „Ein verstauchter Finger ist kein Weltuntergang. Ich bleibe hier."
Nun sah er mich auch an. In seinem Blick spiegelte sich pure Entschlossenheit, allerdings steckte außerdem ein wenig Belustigung in seinen grauen Augen. Mein Blick bohrte sich umso verbissener in ihn.
Unser Starr-Duell wurde von unserem Lehrer unterbrochen, der sich räusperte. „Du kannst gerne gehen, wenn du das möchtest. Wenn der Finger zu sehr schmerzt, sag einfach einem Lehrer Bescheid, ich werde den Unfall im Klassenbuch vermerken."
Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Danke sehr, aber ich glaube, das wird nicht nötig sein."
Er schien mir zu glauben, trotzdem musste ich mir den Rest des Unterrichts von einer Bank an der Seite ansehen, da Ben noch einmal ausdrücklich betonte, dass der Finger unbedingt geschont werden müsse. Dafür hatte er nur einen genervten Blick von mir geerntet.Als die Schüler eine kleine Pause machen durften, kamen meine Teamkameraden zu mir, um sich zu erkundigen, wie es mir ginge. Wie seltsam, dachte ich, dass sie mich erst ansprechen, wenn ich mich verletze und sonst eher meiden.
Höflich gab ich ihnen Auskunft über das Gesagte der Ärztin. Mit gespieltem Verständnis nickten sie und wünschten mir eine gute Besserung. Danach verschwanden sie auch wieder. Ganz verschont wurde ich allerdings doch nicht, denn Ben kam auf mich zu und setzte sich neben mich.
„Und, hast du Spaß?", fragte er mich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Wir beide starrten an die Wand, die sich am anderen Ende der großen Sporthalle befand.
„Oh ja, und wie!", kam meine ironische Antwort.
Sein Lächeln wurde breiter. „Das ist schön. Mir macht es auch unglaublich viel Spaß in einem Team zu spielen, das hauptsächlich nur aus Mädchen besteht, die nicht spielen wollen, da es sein könnte, dass ein Fingernagel abbricht! Außerdem sind Bälle ja böse."
Ich nickte wissend und verstand genau, was er meinte. Die Mädchen gaben sich grundsätzlich keine große Mühe beim Schulsport. Ihr Make-Up und ihre schönen Nägel waren ihnen einfach zu wichtig.
„Hoffentlich überstehe ich noch den Rest der Stunde", seufzte er.
Wahrscheinlich war dies das erste Mal, dass ich bei ihm ein wenig Mitgefühl zeigte. Mitleidig sah ich ihn an und wollte gerade zu etwas Nettem ansetzen, als unser Lehrer den Unterricht fortführen wollte. Ben stand auf und ging zu seinem Spielfeld, wo die drei Mädchen schon auf ihn warteten und ihn mit klimpernden Wimpern begrüßten. Ben nahm sich den Ball. Bevor er aufschlug, warf er mir noch einen leidenden Blick zu, der meine Mundwinkel tatsächlich ein bisschen zucken ließ.

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Learning to live (ABGEBROCHEN)
Jugendliteratur"Kennst du dieses Gefühl, wenn du denkst, dass Gott, sofern er existiert, dich hassen muss, wenn er dir so etwas antut?", fragte ich ihn leise. Er antwortete ohne groß zu überlegen. "Nein, ich glaube nicht an Gott. Ich glaube an mich selbst. Und auc...