Kapitel 14

18 3 0
                                    

Stumm starrte ich den dünnen Jungen neben mir an. Außer so sitzen zu bleiben, fiel mir nichts anderes ein.

„Also", begann Ben. „Ich persönlich habe keine Lust auf ein Gespräch über unsere ‚Probleme'. Wie wäre es, wenn wir uns stattdessen über etwas halbwegs Normales unterhalten?"

Als keine Antwort meinerseits kam, fuhr er fort: „Dann fange ich halt an. Wusstest du schon, dass ich eigentlich aus Schottland stamme?"

Jetzt wurde ich doch neugierig und richtete mich ein wenig auf. „Schottland?"

„Schottland! Als ich fünf Jahre alt wurde, zogen wir nach Deutschland, aber verbringen die Ferien meistens dort. Warst du denn schon einmal da?"

Ich schüttelte den Kopf. Schon lange wollte in den Ferien Schottland besuchen, da ich schon immer Interesse daran hatte, aber wir hatten entweder keine Zeit oder die nötigen Mittel fehlten.

„Da hast du was verpasst!", garantierte er mir. „Wenn du schon denkst, dass wir eine eher hügelige Landschaft haben, solltest du erst die vielen Berge in Schottland sehen. Oder die Klippen."

Fasziniert lauschte ich ihm, während er über sein Geburtsland berichtete. Er erzählte von der grünen Berglandschaft, den Single-track roads, auf denen man manchmal ziemlich weit zurücksetzen muss, falls ein Auto entgegen kommt, um eine breitere Stelle zu finden, von den Schafen, die einfach so in auf der Straße auftauchten und von den vielen Ruinen, die bei den Touristen sehr beliebt waren. Die ganze Zeit über hörte ich ihm zu, nickte ein paar Mal, um ihm meine Aufmerksamkeit mitzuteilen und erfuhr mehr über Schottland als es mir wahrscheinlich im Urlaub möglich gewesen wäre.

Bens Augen strahlten, während er mir all dies erzählte und seine Verbundenheit zu diesem Land war beinahe spürbar. Sein Gesicht bekam einen befreiten Ausdruck. Es war schön, ihm dabei zuzusehen, wie er mit seinen Erzählungen verschmolz, in einer anderen Welt verschwand.

Doch seine Erzählungen wurden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen, das die Therapeutin und damit wahrscheinlich das Ende der Sitzung ankündete.

Das Strahlen verschwand aus Bens Augen und er schien genervt. „Spiel einfach mit", flüsterte er mir zu, während sich sein Gesichtsausdruck von genervt zu niedergeschlagen änderte. Seine Stimme klang rau, als er weitersprach. „Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Es ist, als wäre da etwas in mir, etwas, das ich nicht kontrollieren kann."

Die Therapeutin war inzwischen selbstständig eingetreten. Verwirrt sah ich Ben an, unsicher, was plötzlich los war. Als er mich dann auch noch umarmte und „Hilf mir, ich schaffe das nicht alleine" flüsterte, war ich erst überfordert, bis es mir so langsam dämmerte. Würde Frau Winter herausbekommen, dass wir nur über belanglose Dinge geredet hatten, würde es nur noch unangenehmer für uns werden.

Als hätte er die junge Frau gerade erst bemerkt, schaute Ben auf, rutschte ein wenig von mir weg und wischte sich ein paar nicht existente Tränen weg.

Die Therapeutin strahlte. „Das scheint ja gut funktioniert zu haben. Wahrscheinlich habt ihr noch viel zu klären, aber eure Zeit ist leider schon um. Nächste Woche könnt ihr weiterreden. Solltet ihr bis dahin nicht warten können, oder liegt euch etwas auf dem Herzen, könnt ihr immer vorbei kommen, ich bin täglich hier."

Ben nickte, den Blick auf seine zitternden Hände gerichtet. Ich versuchte betreten dreinzuschauen, war mir allerdings ziemlich sicher, gescheitert zu sein.

„Ihr könnt jetzt gehen, wenn ihr das möchtet."

Wir beide ließen uns nicht noch einmal auffordern, schnappten uns unsere Taschen und stürmten schon beinahe aus dem Raum, trotzdem darauf bedacht, nicht allzu flüchtig zu wirken.

Im Flur angekommen überholt Ben mich mit einem fröhlichen „Bis morgen, Emely."

„Warte", hielt ich ihn zurück. Überrascht, dass ich ihn angesprochen hatte, drehte er sich zu mir um. „Gut geschauspielert."

Ein Grinsen erhellte sein Gesicht. „Danke, aber du warst auch nicht schlecht. Ich hätte nicht gedacht, dass man so mitfühlend aussehen kann." Er drehte sich wieder um und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Ich schaute ihm hinterher und ganz langsam umspielte ein kleines Lächeln meinen Mund, während sich seine Gestalt immer weiter entfernte und ich alleine zurückblieb.


„Emely?", hörte ich die Stimme meiner Tante aus der Küche rufen. „Emely, bist du das?"

Seltsamerweise fühlte ich mich an eine Passage aus einem meiner Lieblingsbücher erinnert.

„Ja, ich komme gleich zu dir." Achtlos ließ ich meine Tasche an dem Treppenaufgang fallen und begab mich in die Richtung, aus der ich die Stimme vermutete. Ich fand Tante Rebecca in ihrem Atelier. Sie war gerade in ihre Arbeit vertieft und schien mich gar nicht richtig wahrzunehmen.

Liebevoll betrachtete ich die zierliche Gestalt, während sie mühelos mit einem feinen Pinsel über die schon halbvolle Leinwand strich und ein neues Bild zauberte. „Tante Rebecca, ich bin Zuhause."

„Hm, was?" Verwirrt drehte sie sich zu mir um. „Ach, du bist es, Emely, wir war es in der Schule?" Ihre Aufmerksamkeit galt nun ganz mir, ihr Pinsel ruhte ausgewaschen bei den anderen.

„Ganz okay. Ich war sogar bei dieser Therapeutin."

Meine Tante schlug sich leicht vor die Stirn. „Ach ja. Ich bin in letzter Zeit so vergesslich... Wie war es denn? Wirst du öfter hingehen?"

Ich biss mir auf die Lippe, als ich in die hoffnungsvollen Augen meiner Tante schaute. Schließlich nickte ich langsam. „Es war nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Vielleicht kann sie mir ja wirklich helfen, ein Versuch ist es wert."

Allein schon der erhellte Gesichtsausdruck von Tante Rebecca bestätigte, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Wenn es sie glücklich machte, würde ich die Stunden in dem weißen Raum schon überstehen, zumal es, würde es nun immer so ablaufen wie heute, gar nicht mal so schlimm werden würde.

„Du wirst schon sehen", meinte Tante Rebecca. „Leute wie sie wissen schon, was sie tun. Möchtest du etwas essen? Ich kann dir was kochen, Nudeln oder so."

Widerstrebend nickte ich und hatte eine knappe Dreiviertelstunde später einen dampfenden Teller Spaghetti unter meiner Nase stehen, den ich, sehr zu Freuden meiner Tante, tatsächlich vollständig aufaß.

„Emely!", rief sie plötzlich entsetzt auf, den Blick auf meine Hand gerichtet. „Wie ist das denn passiert?

Unbewusst strich ich mir über den Verband. „Wir haben Volleyball gespielt du dabei habe ich mir meinen Finger verstaucht. Außerdem war ich auch noch so blöd und habe ihn mir eigeklemmt."

„Oh je... Tut es denn weh? Und kannst du schreiben und zeichnen?"

„Ja, das geht schon Es tut nicht sehr weh und das mit dem Zeichnen geht auch einigermaßen, wenn ich es vorsichtig mache."

Beruhigt ließ sie sich wieder in den Stuhl sinken. „Das ist gut. Dann kannst du ja auch deine Hausaufgaben machen."

Sie zwinkerte mir zu, was ich nur mit einem entnervten Seufzer kommentierte.


So, Kevin Zegers musste einfach dabei sein. Und mit braunen Augen statt den blauen, könnte er einen guten Ben abgeben :)

Hat jemand herausgefunden, aus welchem Buch die Passage abgeleitet ist?^^

Learning to live (ABGEBROCHEN)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt