Am Montag kam Ben nicht in die Schule. Auch am Dienstag blieb der Platz neben mir leer. Es war seltsam, so alleine zu sein. Im Unterricht wurde ich nicht mehr auf meine Zeichnungen angesprochen und in den Gängen hatte ich nicht mehr das Gefühl, ständig verfolgt zu werden.
In der Cafeteria saß ich alleine an meinem Tisch, bis Noah und Emma auf mich zukamen. Ich starrte in mein Essen und sah sie nicht einmal an, als sie sich neben mich setzten.
„Hey", begrüßte Noah mich leise.
Nervös erwiderte ich seine Begrüßung und hob meinen Blick. Noahs Tablett sah neben meinem viel zu überladen aus. Ich hatte mich mit einem Apfelsaft und Nudeln begnügt, während er einen Teller mit Lasagne, einen mit Nudeln und eine Schüssel mit Schokoladenpudding auf seinem Tablett stehen hatte.
Als Noah meinen Blick bemerkte, schmunzelte er. „Möchtest du auch etwas haben? Ich könnte mich vielleicht dazu durchringen, dir etwas abzugeben."
Höflich lehnte ich ab und Noahs Schmunzeln verschwand langsam. Nachdem er mich kurz gemustert hatte, schüttelte er den Kopf und stellte seinen Schokoladenpudding auf mein Tablett.
Verwundert sah ich ihn an. Noah liebte seinen Schokoladenpudding. Noch nie hatte er ihn mir einfach überlassen, obwohl er wusste, wie sehr ich Pudding liebte. Deshalb war es nun umso seltsamer, dass er sich ohne zu zögern wieder seinem Essen zuwandte.
Als er bemerkte, dass ich ihn immer noch anstarrte, drehte er seinen Kopf wieder in meine Richtung. „Was?"
„Das ist dein Pudding", sagte ich und gab ihm die kleine Schüssel wieder.
Noah schüttelte bloß den Kopf. „Du kannst die Kalorien besser gebrauchen als ich. Außerdem weiß ich, wie sehr du dich danach sehnst." Das Lächeln, das mir früher so viel Sicherheit versprochen hatte, erschien wieder auf seinem Gesicht und ließ mich in meinen Bewegungen innehalten. Was war nur passiert, dass wir uns nun auseinandergelebt hatten?
Gedankenverloren schüttelte ich den Kopf. Ich sollte nicht über so etwas nachdenken. Nach dem Unfall hatte ich mich bewusst abgelenkt.
Lieben heißt zerstören, hatte ich vor langer Zeit einmal in einem Buch gelesen. Zu dieser Zeit konnte ich es nicht verstehen, doch nun wusste ich, was damit gemeint war. Verschwindet eine geliebte Person aus deinem Leben, so fühlt es sich an, als würdest du von innen zerbrechen. Da sind die Erinnerungen, die dich auffressen, die Schuldgefühle, die dir Kopfschmerzen bereiten und die Liebe, die dein Herz in tausend Stücke springen lässt. Es ist, als würde man fallen, man fällt und berührt doch nie den Boden, bis die Realität dich mit ihren kalten Klauen ergreift und zu zerdrücken scheint.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter und ich hob meinen Blick, den ich auf mein Tablett gerichtet hatte.
„Alles okay?", fragte Noah mich leise.
Ich nickte stumm. Noah biss sich auf seine Unterlippe und seufzte, ehe er mir den Schokoladenpudding vor die Nase schob. „Bitte iss."
Die Sorge in seiner Stimme war deutlich zu hören. Es machte mich traurig, dass ich es schaffte, meinen ehemaligen besten Freund solche Sorgen zu bereiten.
Nach kurzem Zögern ergriff ich also den Pudding und hob den Löffel mit der süßen Masse langsam zu meinem Mund. Ein Seufzen bahnte sich in meiner Kehle an, das ich jedoch unterdrücken konnte, als sich der Geschmack ausbreitete. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Noah und Emma sich einen Blick zuwarfen und mit einem Mal wurde mir klar, dass sie sich die ganze Zeit über nie aufgehört hatten, sich Sorgen um mich zu mache, auch, wenn sie den Kontakt abbrechen lassen mussten.
„Danke", sagte ich deshalb und meinte es auch so.
Noah lächelte. „Dafür doch nicht."
Ich schüttelte den Kopf. „Das meine ich nicht", erkläre ich. „Ich meine, dass ihr mich noch nicht aufgegeben habt. Nachdem sie...fort waren, war ich nicht sehr freundlich zu euch, dennoch habt ihr nicht aufgehört, mir helfen zu wollen. Und dafür bedanke ich mich."
Vorsichtig schaute ich meine alten Freunde an. Sie wirkten zwar überrascht, aber schienen erleichtert zu sein, dass sie endlich zu mir durchgedrungen waren. In Emmas Augen hatten sich Tränen gebildet, während Noah meinen Blickkontakt zu suchen schien. Dann hob er langsam, ganz langsam, seine Arme.
„Darf ich... Darf ich dich umarmen?", flüsterte er leise.
Ich nickte. Gleich darauf spürte ich, wie mich seine starken Arme umfassten. Und es fühlte sich gut an, sodass sich meine Arme beinahe automatisch hoben, um sich auf seinen Rücken zu legen. Ich registrierte erst, dass ich weinte, als Noah sanft meine Tränen wegwischte. „Es ist schön, dass du wieder da bist. Ich habe dich vermisst", flüsterte er.
Ich schaute zu Emma, die sich nun erhoben hatte und mich ebenfalls in eine Umarmung zog. Zum einen war es ungewohnt, nachdem ich mich wochenlang alleine in meinem Zimmer verschanzt hatte, einem Menschen, der nicht meine Tante war, körperlich wieder so nah zu sein, doch bei Noah und Emma fühlte es sich vertraut an.
Und noch während ich stumm weinend in den armen meiner Freundin lag, wurde mir klar, wie sehr ich meine Freunde vermisst hatte. Bei ihnen fühlte ich mich trotz meines großen Verlustes geborgen und meine Ängste und Sorgen schienen für eine kurze Zeit zweitrangig zu sein.
Noch nie war mir die Bedeutung von Freundschaft so klar, wie in diesem Moment.
„Bitte versprich mir, dass es so bleibt. Versprich mir, dass du dich morgen nicht wieder von uns abwendest", bat Emma mich.
Ein trauriges Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. „Versprochen."
Noahs Hand streichelte mir beruhigend über den Rücken. „Du hast uns gefehlt", sagte er.
„Wahrscheinlich konnten wir einfach nicht mit der Situation umgehen. Aber ich verspreche dir, dass ich dich nie wieder bedrängen werde, wenn du das nicht möchtest. Trotzdem sollst du wissen, dass du uns vertrauen kannst und wir dir helfen wollen, egal, um was es geht." Emma griff nach meiner Hand und drückte sie einmal fest.
Ich schaute Noah an, der Emma mit einem Nicken zustimmte. „Ich bin jederzeit für dich da, du musst nur fragen. Und vielleicht, ganz vielleicht, bekommst du dann noch einmal meinen Pudding." Er zwinkerte mir kurz zu, ehe auch er nach meiner Hand griff. So saß ich nun in der Cafeteria, links und rechts meine besten Freunde und fühlte mich so gut wie schon lange nicht mehr.
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Learning to live (ABGEBROCHEN)
Teen Fiction"Kennst du dieses Gefühl, wenn du denkst, dass Gott, sofern er existiert, dich hassen muss, wenn er dir so etwas antut?", fragte ich ihn leise. Er antwortete ohne groß zu überlegen. "Nein, ich glaube nicht an Gott. Ich glaube an mich selbst. Und auc...