Kapitel 13

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„Herein", hörte ich eine dumpfe Stimme, als ich an die Tür des Hausmeisters klopfte. Vorsichtig lugte ich in den kleinen Raum, in dem ein grauhaariger Mann hinter seinem vollen Schreibtisch saß und auf seinem kleinen Computer einen Film schaute. Titanic, vermutete ich, obwohl ich den Film noch nie gesehen hatte. Der Hausmeister drückte eine Taste und das Pause-Zeichen erschien mitten auf Leonardo DiCaprios Gesicht.

„Guten Tag, Herr Ners", grüßte ich höflich und hielt die Hand mit dem abgebrochenen Schlüssel hoch.

Er seufzte und rollte mit seinem Drehstuhl zu dem großen Ikea-Schrank, der hinter ihm stand. „Ist er dir schon wieder abgebrochen? Du hast Glück, einen habe ich noch. Ich werde bei Gelegenheit noch ein paar bestellen."

Mit einem Lächeln überreichte er mir einen Ersatzschlüssel. Da mir dieses Missgeschick schon mehrmals passiert war, hatte Herr Ners immer einen Schlüssel für mich auf Lager. Wir pflegten einen vertrauten, jedoch ausgesprochen höflichen Umgang miteinander.

„Danke schön. Ich weiß auch nicht, wie ich das immer schaffe, aber ich versuche, es zu vermeiden."
„Das sagst du jedes Mal." Er schüttelt leicht den Kopf, bevor sein Blick auf meine Hand fiel. „Was hast du denn mit deiner Hand gemacht?"

Leicht verlegen strich ich über den Verband. „Volleyball gespielt. Keine gute Idee."

„Das kannst du laut sagen."

Wir lachten beide, ehe ich mich auch schon wieder verabschiedete, um meinen Spind mit dem heilen Schüssel aufschließen zu können. Kaum war ich aus dem Raum draußen, hörte ich die Geräusche des Films hinter mir ertönen. Lächelnd machte ich mich also wieder auf den Weg zu den Schließfächern.

Der Schlüssel passte perfekt und vorsichtig, um ihn nicht wieder kaputt zu machen, drehte ich ihn im Schloss um.

„Hast du da ein wildes Tier drin oder warum bist du so vorsichtig?", erschreckte mich eine mir nur allzu bekannte Stimme.

Natürlich zuckte ich zusammen und verfluchte mich im selben Moment dafür. Ich verstand einfach nicht, wie Ben sich so lautlos anschleichen konnte.

Da ich ihm noch immer keine Antwort gegeben hatte, sprach er weiter. „Natürlich könntest du auch eine Pflanze darin aufbewahren, beispielsweise eine Mimose. Aber ich glaube, du bist eher ein Tierliebhaber. Habe ich Recht? Zweifellos habe ich das."

Fassungslos drehte ich mich zu ihm um.

„Was?", fragte er, als er meinen entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkte.

„Du bist unglaublich", flüsterte ich.

Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, das ihn irgendwie sympathischer werden ließ. „Danke, das höre ich öfter."

Augenverdrehend drehte ich mich schnell wieder zu meinem Spind, der inzwischen weit offen stand. Neben mir spürte ich, wie Ben über meine Schulter in den, zugegeben, recht leeren Schrank. Etwas enttäuscht schmollte er: „Kein Tier? Wie langweilig."

Genervt schmiss ich meine Schulsachen in den Spind und ließ die Tür zuknallen. „Nicht jeder hat die Möglichkeit, sich ein wildes Tier im Schließfach zu halten."

Ben zuckte bloß mit den Schultern und folgte mir, als ich zu meiner nächsten Unterrichtsstunde gehen wollte. Dann allerdings fiel mir auf, dass ich den heutigen Schultag überstanden hatte und endlich nach Hause gehen konnte. Also machte ich auf dem Absatz kehrt und ging in die entgegengesetzte Richtung, wobei ich ein leises Lachen erntete. Mit einem entnervten Seufzer ging ich die Treppen ins Erdgeschoss hinunter, Ben noch immer hinter mir.

Doch aus meinen Plänen, das Schulgebäude so schnell wie möglich zu verlassen, wurde nichts. Auf der Treppe kam mir eine Lehrerin entgegen, die mich freundlich anlächelte. „Hallo Emely. Ich freue mich schon, dich gleich in meinem Büro begrüßen zu dürfen", sprach sie mich an. Dann wanderte ihr Blick zu Ben. „Und dich auch, Ben. Geht ruhig schon einmal vor, ich komme gleich nach. Die Tür ist offen, macht es euch bequem."

In mir zog sich alles zusammen. Ich kannte diese Frau. Sie war die Therapeutin, zu der meine Tante mich schicken wollte.

Meine Augen blieben an Ben hängen und ich fragte mich, weshalb er auch in ihr Büro musste. Vielleicht ist er ja magersüchtig?, kam mir in den Sinn, als ich ihn so musterte. Er war dünn, sehr sogar. Aber magersüchtig?

Der dunkelhaarige schien meine Blicke bemerkt zu haben, denn er grinste mich an. „Du kannst auch gerne ein Foto machen, dann hast du länger was davon."

Mit einem verzweifelten Stöhnen machte ich mich schnell auf den Weg zu dem Büro der Therapeutin.


An der weißen Tür in der Nähe des Lehrerzimmer angekommen, blieb ich stehen. Unsicher, ob ich wirklich schon reingehen sollte, verlagerte ich mein Gewicht auf ein Bein.

Meine Entscheidung wurde mir durch Bens entschlossenes Eintreten abgenommen. Kaum umgesehen, ließ er sich gleich auf das weiche Sofa fallen. Nach einem kurzen Zögern beschloss ich, mich zu ihm zu gesellen und setzte mich neben ihn. Wir schwiegen uns ein paar Minuten lang an, bis die Therapeutin endlich wiederkam und gegenüber von uns Platz nahm.

„So", begann sie. „Wer ihr seid, weiß ich ja schon. Falls ihr nicht wisst, wer ich sein sollte, ich bin Karen Winter, die Schultherapeutin. Ich weiß über eure Probleme Bescheid und hielt es für das beste, eine Gruppentherapie mit euch zu eröffnen, so eine Art Selbsthilfegruppe. Was haltet ihr davon?"

Unfähig, zu sprechen, starrte ich sie an. Vor Ben über meine Probleme zu reden, war das Letzte, was ich wollte. Ihm schien es ähnlich zu gehen, denn ein kurzer Seitenblick zeigte, dass auch er die junge Frau vor uns anstarrte.

Unser Schweigen schien sie falsch zu deuten, da sie freudig in die Hände klatschte. „Keine Einwände? Wunderbar! Nun denn, wollen wir mit dir anfangen, Ben?"

Ein fassungsloses Lachen entwich ihm, ehe er antwortete: „Ganz sicher nicht!"

„Schade." Frau Winter wandte sich mir zu. „Wie sieht es bei dir aus, Emely?"

„Das können Sie vergessen!"

Sie seufzte kurz. „So funktioniert das nicht. Wenn ich euch helfen soll, müsst ihr das auch zulassen." Sie zog einen kleinen Schmollmund, bevor ihr Gesicht sich wieder erhellte. „Ich habe eine Idee! Wenn ihr mit mir nicht darüber reden wollt, lasse ich euch eine Weile alleine."

„Danke schön", ließ sich von Ben vernehmen.

„Während ich draußen bin, könnt ihr euch vielleicht gegenseitig von euren Problemen erzählen und euch so helfen. Ihr werdet sehen, es ist schön, sich jemandem gegenüber öffnen zu können."

Bens Kopf sank einen Stück auf seine Brust, wodurch seine Augenringe noch deutlicher hervorstachen. Ich spannte lediglich meinen Kiefer an, als Frau Winter den Raum wie ein kleines Kind, das sich freute, verließ und uns alleine ließ.

„Na toll", murmelte Ben. „Und was machen wir jetzt?"


Stellt euch Alexandra Daddario mit etwas dunkleren Haaren und Kevin Zegers (kennt den jemand?) mit grauen Augen vor :)

Learning to live (ABGEBROCHEN)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt