„Alle hinsetzen bitte!", bat uns unser Kunstlehrer Herr Weber. Alle Schüler, die noch nicht saßen, begaben sich schnell zu ihren Plätzen, damit Herr Weber den Unterricht beginnen konnte.
Kunst war mein Lieblingsfach. Auch wenn viele Projekte vorgegeben wurden, konnte ich mich trotzdem ein wenig ausleben. Selten kam es sogar vor, dass ich noch etwas lernte.
„Herein!", rief unser Lehrer, nachdem es geklopft hatte. Die schwere Tür öffnete sich und Ben trat ein.
„Tut mir leid", entschuldigte er sich. „Aber ich wusste nicht, in welchem Raum wir haben und bin zu dem falschen gelaufen."
Herr Weber nickte ihm einmal zu. „In Ordnung. Setz dich hin, damit wir anfangen können."
Natürlich steuerte Ben gleich auf die letzte Reihe zu, wo ich saß. Wieder hatte ich keinen Tischnachbarn, weshalb Ben den Platz einnahm.
„Einen wunderschönen guten Tag", grüßte er.
Ich antwortete ihm nicht. Stattdessen versuchte ich mich auf die Stimme meines Lehrers zu konzentrieren, der gerade dabei war, uns unsere nächste Aufgabe zu erklären. Er teilte Blätter aus, während er sprach. „Wir wollen heute die Grundlagen für Porträts ein wenig genauer unter die Lupe nehmen. Für den Anfang würde ich euch bitten, das Blatt in vier Teile einzuteilen. Ihr könnt es entweder zurecht knicken oder mit dem Bleistift Linien zeichnen. In das erste Kästchen zeichnet ihr dann einen Mund. Schaut euch am besten euren Sitznachbarn an und zeichnet dessen Mund, das könnte euch helfen. Wenn ihr fertig seid kommt bitte nach vorne und zeigt es mir, da bekommt ihr auch die nächste Aufgabe."
Nachdem Herr Weber mir meinen Zettel gegeben hatte, nahm ich mir meinen Bleistift und skizzierte die Umrisse eines leicht geöffneten Mundes. Ich zeichnete keinen bestimmten, da eine Vorlage für mich nicht nötig war.
Für Ben anscheinend schon, da er mich mal wieder ansprach. „Kannst du dich bitte kurz zu mir drehen? Ich weiß nicht, wie ich das hier machen soll und bräuchte daher etwas zum Vergleichen."
Etwas widerwillig drehte ich meinen Kopf in seine Richtung, damit er sich die Form ansehen konnte. Mit leicht zusammengekniffenen Augen starrte er auf meine Lippen, ehe er sich an seine Zeichnung machte.
Nach nicht allzu langer Zeit war ich mit meinem Ergebnis ziemlich zufrieden, während Ben immer wieder radieren musste und langsam keine Geduld mehr zu haben schien. Ich ging nach vorne, um mir die nächste Aufgabe erklären zu lassen.
Herr Weber sah sich meine Zeichnung genau an. Dann stand er auf und trat vor die Klasse. „Schaut mal alle her, bitte! So sollte es aussehen. Wenn es nicht ganz so gut wie dieses hier wird, ist das nicht so schlimm, Emely hat das wirklich fantastisch gemacht! Aber die Proportionen sollten schon so in etwa sein wie hier."
Die ganze Klasse schaute mich an. Verlegen sah ich auf den Boden und versuchte, mich ein wenig den Blicken zu entziehen, indem ich unmerklich ein wenig hinter Herr Weber trat. Dieser ging jetzt allerdings wieder zu seinem Lehrerpult, setzte sich und gab mir eine neue Aufgabe. „Als nächstes kannst du mit einem Auge weitermachen. Das ist für dich ja keine Herausforderung."
Ich nickte, entnahm ihm mein Blatt und setzte mich wieder auf meinen Platz neben Ben.
„Wow", meinte er. „Dagegen sieht meins ja wie eine Missgeburt aus. Und ich war eigentlich ganz stolz darauf. Du kannst mir nicht zufällig ein wenig zur Hand gehen?"
Mit einem Seufzen nahm ich sein Blatt uns sah es mir an. Er hatte gar nicht mal so Unrecht mit seinem Vergleich. Der Mund war schief und die Unterlippe viel zu breit, während die Oberlippe nur ein dünner Strich war.
Kurz schüttelte ich den Kopf. „Da kann man nicht viel retten, nur neu anfangen."
Er stützte seinen Kopf in seine Hände, weswegen seine Stimme gedämpft bei mir ankam. „Nicht schon wieder von vorne anfangen!"
Rasch suchte ich mein Radiergummi und fing an, die dünnen Bleistiftlinien zu entfernen. Innerhalb kurzer Zeit war das Blatt wieder so weiß wie zuvor. Um keine unvorteilhaften Linien beim Reinzeichnen nachher zu haben, drehte ich das Blatt einmal um, bevor ich vorsichtig anfing, mit schwungvollen Linien die Umrisse zu zeichnen. Ben hatte seinen Kopf inzwischen wieder von seinen Händen gehoben und schaute mir zu, wie die Linien sich miteinander verbanden und eine Form annahmen.
Als ich mit dem Skizzieren fertig war, schob ich das Blatt wieder zu ihm hin. Fasziniert sah er es sich an.
„Danke", sagte er und blickte von der Zeichnung zu mir. „Ich hätte das niemals so hinbekommen."
Ich wandte mich wieder meinem Blatt zu. „Du solltest es etwas abändern, sonst merkt er, dass ich das war."
Langsam nickte er, nahm sich seinen Bleistift und zeichnete weiter, während ich mit dem Auge anfing. Wie schon zuvor bei dem Mund skizzierte ich den Umriss, bevor ich das Gleiche bei dem Inneren machte. Erst danach fuhr ich die vielen Linien mit einem weicheren Stift kräftiger nach, bevor ich mich letztendlich an die Details machte.
„Wie findest du das?", wollte Ben von mir wissen, als er fertig war.
Die Zeichnung war deutlich besser als vorher, trotzdem konnte man nicht erkennen, dass ich meine Finger im Spiel hatte. Ich nickte einmal, um ihm zu signalisieren, dass er nach vorne gehen und es vorzeigen konnte. Er verstand und ging auf Herr Weber zu, der sein Werk kritisch beäugte. Was er zu ihm sagte, verstand ich nicht, aber aus seiner Reaktion schloss ich, dass ihm mein Einwirken wirklich nicht aufgefallen war. Beruhigt konnte ich also mit meiner Arbeit fortfahren.
Als Ben wieder zurückkehrte, hatte er ein Grinsen in seinem Gesicht kleben. „Der Lehrer hat mich ziemlich gelobt. Das war wirklich nett von dir, du hast ein riesen Talent, wirklich!"
Nach einem kurzen Seitenblick zu ihm begann ich, dünne Striche auf der Iris, ausgehend von der Pupille, nach außen hin zu zeichnen.
„Ehm... Könntest du mich vielleicht noch einmal ansehen?", bat er mich. „Damit ich mich am Auge probieren kann."
Erneut drehte ich mich zu ihm und begegnete seinem Blick. Mit seinen grauen Augen schaute er direkt in meine blauen. Es verwirrte mich leicht, da eine unglaubliche Intensität aus seinen Augen sprach. Natürlich sah er mich nur so an, weil er die Formen genau studierte, trotzdem wurde mir unbehaglich zumute. Es schien, als würde er einen Moment länger verharren als nötig, und auch ich wandte mich nicht ab. Das blasse Grau seiner Iris hatte eine faszinierende Wirkung auf mich.
Dann war der Moment vorbei und Ben wandte sich ab, um mit seiner Zeichnung anzufangen. Leicht benebelt und ein wenig verärgert darüber, dass ich nicht einfach weggesehen hatte, arbeitete auch ich weiter, bis es schließlich klingelte. Wie alle anderen gab ich mein Blatt vorne bei Herrn Weber ab, wie alle anderen, und ging zu meinem Schließfach, um die Bücher auszutauschen. Danach machte ich mich auch schon auf den Weg zur Schulmensa.
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Learning to live (ABGEBROCHEN)
Roman pour Adolescents"Kennst du dieses Gefühl, wenn du denkst, dass Gott, sofern er existiert, dich hassen muss, wenn er dir so etwas antut?", fragte ich ihn leise. Er antwortete ohne groß zu überlegen. "Nein, ich glaube nicht an Gott. Ich glaube an mich selbst. Und auc...