Genau eine Woche später stand ich wieder vor der Tür, die in das trostlose Zimmer der Therapeutin führte. Ben saß bereits auf dem Platz, den er schon letzte Woche eingenommen hatte, da ich mich ein paar Minuten verspätet hatte. Er schaute auf den Boden vor seinen Füßen und nickte abwesend, während die Therapeutin, die auf dem großen Ledersessel vor ihm saß, auf ihn einredete. Bens Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war ihm das Gesprächsthema äußerst unangenehm und sein Kiefer war angespannt.
„Ich weiß", fuhr er Frau Winter an. „Natürlich weiß ich das!"
„Warum hörst du dann nicht auf? Warum fällt es dir so schwer?"
Vorsichtig schlich ich ein paar Schritte zurück, um nicht bemerkt zu werden. Ich hatte das Gefühl, Zeuge von etwas zu werden, was mich nicht im Geringsten etwas anging. Tief atmete ich durch, ehe ich durch die Tür rauschte und die beiden somit aus ihrem Gespräch riss.
Ben schaute auf und seine angespannte Miene verwandelte sich in Erleichterung.
Meine Therapeutin schenkte mir nur ein Lächeln und bedeutete mir, mich hinzusetzen. „Hallo, Emely. Ich habe eben schon einmal ein bisschen angefangen, ein Gespräch mit Ben zu führen. Falls du dich benachteiligt fühlen solltest, kannst du nach dieser Stunde gerne noch ein wenig bleiben."
Schon bei dem bloßen Gedanken, ein persönliches Gespräch mit Frau Winter zu führen, überlief mich ein Schauer.
„Dann lasst uns jetzt anfangen. Wie wollen wir es diese Woche machen? Wollt ihr wieder alleine reden oder seid ihr diesmal bereit, mit mir über alles zu sprechen?"
Ben und ich sahen uns an. Ich konnte ihm ansehen, dass er genauso wenig mit ihr reden wollte wie ich.
Unsere Therapeutin schien das zu merken. „Ich verstehe, ihr braucht noch Zeit. Dann lasse ich euch wieder alleine. Wenn irgendetwas sein sollte, sagt einfach Bescheid."
Ben ließ ein genervtes Stöhnen entweichen, als sich die Tür endlich leise geschlossen hatte. „Ich dachte schon, die lässt mich nie in Ruhe."
Nervös biss ich mir auf meine Lippe. „Ben?"
„Hm?"
„Darf ich dich was fragen?" Ich war mir nicht sicher, wie er reagieren würde, aber diese eine Frage ließ mich nicht los.
„Kommt darauf an", meinte er skeptisch.
Noch einmal bearbeitete ich meine Lippe, bis ich mich endlich traute, etwas zu sagen. „Wieso bist du hier?"
Bens Kiefer spannte sich augenblicklich an und sein Blick verhärtete sich. „Würdest du mir deinen Grund verraten?", fragte er leise.
„Nein." Ich schaute auf meine Hände, die in meinem Schoß lagen.
„Dann werde ich das auch nicht."
Ich nickte. Mit so etwas hatte ich schon gerechnet und obwohl ich neugierig war, verstand ich ihn. Da ich ihm nicht vom Tod meiner Eltern erzählen würde, war es nur fair, wenn ich ihn nicht dazu drängte, mir von seinen Problemen zu erzählen.
Stille herrschte zwischen uns. Von Minute zu Minute wurde sie unangenehmer. Meine Hände verhakten sich miteinander und ich starrte unruhig zur Uhr, nur um zu sehen, dass erst fünf Minuten um waren.
Die ganzen letzten Tage war es nie still zwischen ihnen gewesen, dafür hatte Ben schon gesorgt. Inzwischen hatte ich mich sogar daran gewöhnt, dass er mir auf Schritt und Tritt folgte. Meine Ausbrüche ihm gegenüber waren auch ein wenig abgeebbt. Diese Stille, die nun zwischen uns herrschte war also mehr als unüblich.
Allem Anschein nach schien sie Ben gar nicht mal so ungelegen zu kommen. Er hatte einen Arm auf die Lehne gestützt und schien über etwas nachzudenken. Obwohl er dabei traurig aussah, war ich mir nicht sicher, ob ich ihn aus seinen Gedanken reißen sollte.
Nach weiteren Minuten der Stille entschied ich mich schließlich dafür. „Ich wollte schon immer mal nach Schottland", sagte ich und griff somit das Thema von letzter Woche wieder auf.
Ben wandte mir sein Gesicht zu, offensichtlich ein wenig überrascht, dass ich ihn angesprochen hatte. „Warum warst du nie dort?" Seine Stimme klang noch immer ein wenig belegt.
„Es war immer zu teuer. Wir wollten eine Rundreise machen, damit wir ganz Schottland sehen könnten, aber das kostet nicht gerade wenig." Dass wir dieses Jahr genug Geld gehabt hätten, behielt ich bewusst für mich.
Ben lehnte sich zurück und sah mich an. „Wo habt ihr stattdessen Urlaub gemacht?"
„Meistens in Wien."
„Wien. Dort wiederum war ich noch nicht. Unterscheidet es sich sehr von unsere Stadt?", fragte er mich neugierig.
Also begann ich leise, ihm von allem zu erzählen. Davon, dass Wien so viel größer und voller war, als diese Stadt. Davon, dass sie teilweise andere Begriffe benutzten, was bei mir und meiner Familie oft genug für Verwirrung gesorgt hatte. Von dem Akzent, der sich in meinen Ohren ein bisschen wie bayerisch angehört hatte. Und natürlich von den berühmten Gebäuden, die wir alle zusammen besucht hatten.
Die ganze Zeit über hörte Ben mir aufmerksam zu und stellte Fragen, um meinen spärlichen Redefluss anzuregen.
Als ich schließlich wirklich nichts mehr zu erzählen hatte, warf ich einen Blick auf die Uhr. Die Stunde war in ein paar Minuten um. Überrascht, wie viel ich geredet hatte, öffnete sich mein Mund einen Spalt breit.
Ben seufzte. „Ich fürchte, wir haben unsere Gesprächsthemen erst einmal aufgebraucht. Wir sollten uns etwas Neues überlegen, wenn wir nächste Woche wenigstens so wirken wollen, als würden wir diese Therapiestunden ernst nehmen. Sonst müssen wir bald tatsächlich über unsere Probleme reden."
Meine Mundwinkel zogen sich nach oben. „Ich denke mal darüber nach."
Plötzlich spannte Ben sich an. „Sie kommt. Tu so, als würdest du am Boden zerstört sein."
Überrumpelt blieb ich still sitzen und starrte ihn an.
Ben schenkte mir ein sanftes Lächeln. Erst jetzt realisierte ich, dass Frau Winter schon fast bei unserem Sofa angekommen war. Schnell schaute ich auf meine Hände und ließ leises Schniefen erklingen, während ich mir rasch über die Augen wischte. Um meine Augen zu verdecken, die verraten hätten, dass ich nicht geweint hatte, schob ich mir meine langen Haare in mein Gesicht. Ben bat mir mitfühlend ein Taschentuch an, das ich dankend annahm.
„Möchtet ihr noch ein paar Minuten haben?", fragte unsere Therapeutin, als sie meinen Zustand bemerkte.
„Geht schon", sagte ich mit erstickter Stimme. Zusammen mit Ben erhob ich mich, schnappte mir meine Tasche und wir verließen das Zimmer.
Im Flur ging Ben neben mir. „Ich muss meine Aussage von letzter Woche korrigieren. Du bist eine unglaubliche Schauspielerin, beinahe hätte ich es dir abgekauft."
„Danke." Ich lächelte und dieses Mal war das Lächeln ein ehrliches Lächeln.

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Learning to live (ABGEBROCHEN)
Teen Fiction"Kennst du dieses Gefühl, wenn du denkst, dass Gott, sofern er existiert, dich hassen muss, wenn er dir so etwas antut?", fragte ich ihn leise. Er antwortete ohne groß zu überlegen. "Nein, ich glaube nicht an Gott. Ich glaube an mich selbst. Und auc...