Kapitel 10

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Seufzend zog ich mich um. Tatsächlich war meine Beschäftigung für den Rest des Sportunterrichts Zuschauen gewesen. Mein Team hatte also nur noch aus drei Leuten bestanden, doch es war besser gelaufen, als wenn sie mich im Weg gehabt hätten.
Umständlich schnürte ich meine Schuhe, indem ich bei der rechten Hand den Schnürsenkel zwischen Mittelfinger und Daumen hielt. Es war zwar etwas schwieriger, aber trotzdem machbar.
Fertig umgezogen schnappte ich mir meine Tasche und verließ die Umkleide, um zu meinem Spind zu gehen und die Bücher für den nächsten Unterricht zu holen. Auf dem Weg fiel mir auf, dass ich noch einen Zopf trug. Kurzerhand griff ich an meinen Hinterkopf und zog das Haargummi heraus. Ich schüttelte meinen Kopf einmal, damit meine Haare richtig fallen konnten.
„Erschlag mich bitte nicht mit deiner Haarpracht."
Erschrocken sprang ich ein paar Schritte zur Seite und starrte in das belustigte Gesicht von Ben. Ich bedachte ihn mit einem wütenden Blick, ehe ich meinen Weg fortsetzte. Wie ein Schatten folgte er mir.
Glücklicherweise bekam ich meinen Spind dieses Mal leicht auf und auch meine Tasche ließ sich einfach schließen, nachdem ich in ihr meine Bücher verstaut hatte. Ben erntete ich einen genervten Blick von mir, als er immer noch nicht verschwand, sondern mir brav in den Chemieunterricht folgte. Es überraschte mich nicht, dass er sich erneut zu mir in die letzte Reihe setzte.
Wie üblich holte ich meinen Block heraus und die Klasse begrüßte kurz die Lehrerin. Dann nahm ich mir meinen Bleistift und begann, willkürlich etwas zu zeichnen. Nach einigen Minuten, in denen ich durchaus auch meiner Lehrerin zugehört hatte, konnte ich erkennen, was meine Hand schaffen wollte.
Es war ein Friedhof.
Nachdem ich die Grundzüge schon geschaffen hatte, flog meine Hand noch einmal zu einer anderen Stelle. Auf der Mitte des Bildes war ein großer Grabstein zu sehen, auf den ich einen mir fremden Namen geschrieben. Der Stift machte ein leises, aber doch vorhandenes kratzendes Geräusch, während er die Umrisse einer Person schuf. Die Person schien über dem Grab zu schweben, hatte die Arme ausgebreitet und den Kopf in Richtung Himmel gehoben. Kurz musste ich überlegen, bis ich mich dazu entschied, dass diese Person männlich sein sollte. Also bekam verbreiterte ich die Schultern und zeichnete eine Kurzhaarfrisur.
Nach diesen groben Umrissen, fiel mir auf, dass irgendetwas fehlte. Angestrengt versuchte ich, es herauszufinden und legte den Stift leicht gegen meine Lippen.
Dann fiel es mir ein. Eifrig ließ ich dem Jungen Flügel wachsen, die sich hinter ihm erstreckten. Endlich zufrieden konnte ich nun mit den Details beginnen. Die Umrisslinien wurden zusammenhängender und dicker, der Friedhof nahm an Gestalt an.
„Interessant, auf was für Gedanken du während des Chemieunterrichts kommst", bemerkte Ben, der mich anscheinend beobachtet hatte.
Ich war zu vertieft ins Zeichnen, um mir eine Antwort zu überlegen.
Leider musste er mich schon wieder ablenken. „Wir sollen übrigens einen Versuch aufbauen."
Verwirrt sah ich von meiner Zeichnung auf und erkannte verblüfft, dass er Recht hatte und alle Schüler zu den Regalen mit den Utensilien strömten. Schnell legte ich meinen Stift weg, warf einen Blick auf die Geräteliste, die an der Tafel stand und suchte das Nötige zusammen, während sich Ben um die Stoffe kümmerte, die wir verwenden sollten.
Nach ein bisschen Vordrängeln hatte ich schließlich alles zusammen und ging zurück zu meinem Platz, wo ich schon erwartet wurde.
„Was müssen wir denn machen?", fragte ich beschämt.
Er grinste. „Wir müssen den Versuch aufbauen, der auf dem Zettel beschrieben ist, den wir bekommen haben."
Ich lief leicht rot an und schaute auf meinen Tisch. Tatsächlich lag dort ein Zettel, auf dem der Versuchsaufbau gezeigt wurde. Anscheinend sollten wir wieder etwas oxidieren und dann die Beobachtung und Deutung aufschreiben. Anschließend sollten wir eine Reaktionsgleichung bilden.
„Ähm", machte ich. „Das mit der Reaktionsgleichung wird schwierig. Ich kann das immer noch nicht, letztes Jahr wurde mir das nicht hinreichend genug erklärt."
Ben nickte und nahm dann seinen Zettel in die Hand. Für ihn schien das Thema geklärt zu sein. „Ich glaube, ich bin da halbwegs durchgestiegen. Hast du den Aufbau verstanden? Dabei bist du bestimmt besser wie ich, ich verstehe die nie."
„Als", lautete meine Antwort und Ben schaute mich ziemlich verwirrt an. „Es heißt besser als ich, nicht wie."
Immer noch verwirrt starrte er mich an. Dann hoben sich seine Mundwinkel, ehe er anfing, loszulachen.
„Was ist denn daran so witzig?"
„Ich glaube", begann er, als er sich wieder unter Kontrolle hatte, „ich wurde noch nie so verbessert, wie du es eben getan hast."
Jetzt war ich die, die ihn verwirrt ansah. „Was war denn so anders?"
„Na ja, normale Menschen würden mir wahrscheinlich erst einmal antworten, anstatt mich zu verbessern und auch danach keine Antwort zu geben. Außerdem, es gibt so viele Leute, die das verwechseln, du kannst doch nicht immer jeden verbessern."
„Ich kann schon."
Diese Aussage ließ ihn wieder lächeln. „Komm, wir bauen den Versuch auf."

Nach dem Versuch half Ben mir bei der Reaktionsgleichung und erklärte mir genau, wie man sie bilden musste. Unsere Lehrerin hatte das in dem letzten Jahr nicht gerade viel beschrieben, sodass wir es uns selbst erschließen mussten, was mir misslungen war. Mit der Erklärung von Ben konnte ich viel mehr anfangen. Als die Lehrerin mich nach meiner Gleichung fragte, erntete ich ein anerkennendes Nicken von ihr, da die Lösung tatsächlich richtig war.
„Danke", flüsterte ich Ben zu.
Er nickte kurz, so als wollte er mir sagen, dass es kein Problem gewesen wäre.
„In Ordnung", sagte unsere Lehrerin, nachdem sie die Antworten gehört hatte, die sie wissen wollte. „Ich habe ein kleines Projekt mit euch vor. Gleich werde ich euch diese Teststreifen, die ich in der Hand halte, austeilen. Danach bekommt jeder von euch einen Partner. Eure Aufgabe ist zu testen, welche Dinge bei euch zu Hause saure Lösungen sind und welche alkalische. Das haben wir noch nie wirklich getestet, aber ich würde demnächst gerne ein Experiment machen, bei dem das eine große Rolle spielt."
Ich stieß einen genervten Seufzer aus. Als wir das Thema vor ein paar Jahren hatten, nahm es unsere Lehrerin nur wenige Stunden mit uns durch, was zur Folge hatte, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, auch wenn ich es verstanden hatte.
„Ich habe mir zu Hause schon die Partner verteilt, also wird das hier kein Wunschkonzert. Dich habe ich auch schon eingeteilt, Ben. Nun gut, dann beginne ich mal. Martin und Hannah, Elisabeth und Emil, Elias und Tarek..."
Ohne Interesse hörte ich nicht mehr zu, sondern widmete mich wieder meiner Zeichnung. Die Flügel des Jungen schattierte ich, so dass sie schwarz aussahen.
Dann hörte ich meinen Namen.
„Emely und Ben."
Mein Kopf fuhr in seine Richtung.
Er grinste mich nur an. „Was für eine interessante Auswahl, findest du nicht?"


Learning to live (ABGEBROCHEN)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt