Zwei

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Auf den ersten Blick scheint alles normal. Es herrscht eine lockere Turnieratmosphäre, an die ich mich schon längst gewöhnt habe. Die Menschen, die Pferde, der Trubel um mich herum scheint mich nicht zu beeinflussen. Ich sitze entspannt im Sattel, halte die durchhängenden Zügel in einer Hand und nippe an meinem Getränk, welches ich in der anderen Hand halte. Apfel- Kirsch- Tee.
Auch Golden Fall sieht völlig unbeeindruckt von dem aufgeregten Treiben aus und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

Der Fernseher zeigt ein paar Aufnahmen vom Abreiteplatz. Zuerst ein paar Trab- und Galoppübungen, dann beginne ich mit dem Einspringen. Ich muss zugeben, es sieht verdammt gut aus, wie wir beide über den noch niedrigen Sprung hinwegfliegen. Auch, als das Hindernis erhöht wird, bekommen wir beide, Pferd und Reiter, keinerlei Schwierigkeiten, im Gegenteil. Es sieht fast so aus, als würden wir uns kein bisschen anstrengen und die Sprünge locker aus dem Handgelenk schütteln. Nur mein Trainer, Golden Fall und ich wissen, dass es in Wirklichkeit ein langer und harter Weg ist, so über die Hindernisse zu schweben, wie wir es tun.

Die Aufnahme bricht ab und wechselt zu dem Moment, in dem ich aufgerufen werde. Ein schon etwas anderes Bild bietet sich mir. Die eben noch so gelassene Stute ist wie vertauscht. Spannung und Aufregung sind ihr sofort anzusehen und auch ich wirke nicht mehr so entspannt. Ein wenig kann ich mich noch an diesen Moment erinnern, wie wir dort standen und warteten. Doch schon ertönt im Hintergrund die Startklingel und ich reite los.

Nach den ersten zwei Hindernissen erkenne ich nun schon, dass Golden Fall nicht mehr so viel Mut und Begeisterung wie anfangs zeigt. Ihre Galoppade ist nicht mehr ausgreifend, den Schweif trägt sie flach. Auch zucken ihre Ohren immer wieder nervös zu allen Seiten.
Ich bemerke auch, dass sie sich unwohl fühlt. Es wird auch nicht besser, als ich ihr im Fernseher mit Sporen und Gerte den richtigen Weg zu zeigen versuche. Nun reite ich den für uns letzten und bös endenden Sprung an. Golden Fall wirkt nun verklemmt, fast schon ängstlich und widerwillig. Sie will nicht springen! Aber warum nicht? Und warum ist sie es dann doch?

So, wie sie es in diesem Augenblick auf dem Bildschirm tut. Sie reckt den Hals, nimmt anscheinend noch einmal all ihre Kraft zusammen und springt tatsächlich ab!

Doch das Unfassbare geschieht.

Golden Fall stößt mit dem Karpalgelenk an die vorderste Stange und diese fällt furchtbar ungünstig zwischen ihre Vorderbeine. Dadurch schafft sie es trotz allen Bemühungen nicht, ihr zweites Bein zur Landung vorzustrecken und stürzt sofort zu Boden, ohne auch nur das Geringste dagegen tun zu können. Ihre Rücken- und Halsmuskulatur wird unnatürlich stark überdehnt, sie muss unerträgliche Schmerzen haben.

Da muss ich wegschauen, obwohl ich weiß, dass Wegsehen kein Ausweg ist, die Dinge zu umgehen, aber ich versuche es trotzdem.
Es tut einfach zu sehr weh. Zu sehen, wie ich hilflos durch die Luft geschleudert werde, wie Golden Fall verzweifelt versucht, nicht auf mich zu fallen, es aber nicht schafft. Ich werde unter dem schweren Pferdekörper begraben, ein markerschütternder Schrei erschallt und das Publikum im Hintergrund reißt geschockt die Augen auf und hält sich die Hände entsetzt vor den Mund.

Golden Fall setzt alles daran, weg von mir zu kommen, um mich nicht zu verletzen. Sie ist selbst in so einer Ausnahmesituation bedacht, mir nicht weh zu tun. Das rechne ich ihr hoch an.
Nach ein paar Sekunden ist alles vorbei. Meine Stute rappelt sich benommen auf und schaut verstört um sich. Die Zügel hängen nicht mehr über ihrem Hals, sondern baumeln schlaff vor ihr.
Ich liege regungslos auf dem Boden, wie ein gebrochener Mensch, der sich nicht aufrichten kann. Sanitäter kommen auf mich zugerannt, jemand fasst nach Golden Falls Zügel und führt sie langsam vom Platz. Jetzt sehe ich deutlich, dass sie lahmt. Das rechte vordere Bein belastet sie nicht richtig und hinkt bei jedem Schritt.

Die Aufnahme flattert und bricht ab. Der Bildschirm wird schwarz.

Geschockt sitze ich auf meinem Bett und bin sprachlos. Das, was ich gerade gesehen habe, es fühlt sich nicht echt an. Als hätte man einen Film mit Stuntmen gedreht und schaut sich nun den Trailer an. Es ist unsagbar schwer für mich, mir einzugestehen, dass dieser Unfall wirklich geschehen ist und ich dabei die Hauptperson gespielt habe. Ich war der Stuntman.

Ja, nur war es keine geplante Szene, die gedreht wurde, sondern ein reales Ereignis. Ich bin die Person, die wie Stock durch die Luft geflogen ist. Ich bin die Person, der der Atem aus der Lunge gepresst wurde, als das Pferd aif mich fiel. Ich bin die Person, die wie tot auf dem Boden lag. Ich.

"Penny?", fragt meine Mom vorsichtig.
Ich nicke nur, zu mehr bin ich im Moment nicht im Stande.
"Es tut mir alles so leid! Hätte ich irgendetwas tun können, ich schwöre, ich hätte es getan!"
Wieder nicke ich. Ja, hätte ICH irgendetwas tun können, ich hätte es auch getan.

Wamm! Da ist es. Plötzlich ist es da. Ein Gefühl, welches ich in Verbindung mit Pferden noch nie gehabt habe. Es trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube, lässt mich zusammenzucken.

Schuld.

Es läuft mir eiskalt den Rücken runter.

Schuld ist das Schlüsselwort. Fragen sich nicht gerade alle, wie das passieren konnte? Wie das nur geschehen ist? Ist das nicht die Frage, die man zuallererst beantworten muss?
Ich habe die Antwort. Schuld. Ganz allein durch Schuld ist dieser Sturz geschehen. Und ich, ich bin schuld.

Just in diesem Moment schießt sie mir ein wie ein Blitz, die Erinnerung. Ich hatte die Wahl, ob kurzer oder langer Anreitweg. Ich wählte den Kurzen. Dann die Erleuchtung, dass Golden Fall nicht springen wollte. Danach sehe ich die Bilder vor mir vorbeiziehen. Ich treibe sie trotzdem vorwärts. Nehme Sporen und Gerte zum Einsatz. Sie springt. Sie reißt. Sie stürzt.

Es ist meine Schuld, dass Golden Fall, meine Springstute, einen Sehnenschaden hat. Und es ist auch mir zuzuschreiben, dass ich nun im Krankenhaus liege.
Ich hätte etwas tun können und habe es aber nicht getan. Ich hätte den langen Weg wählen können, habe es aber nicht getan. Dann hätte ich vorsichtiger sein und auf mein Pferd hören können, habe es aber wieder nicht getan. Ich hatte so viele Chancen gehabt, das zu verhindern. Ich hab alle Chancen verstreichen lassen.

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Heyho! Da bin ich wieder. Ja das ist nun das zweite Kapitel. Ich hoffe es gefällt euch! ☺
Bei Fragen, Wünschen oder Kritik bitte in die Kommis!

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