Acht

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Den braunen Springsattel über dem Arm hängend schnappe ich mir noch Illusions ebenfalls braune Trense, verlasse die kleine, schöne Sattelkammer und mache mich auf den Weg zu dem schon geputzten Holsteiner. Erwartungsvoll wendet dieser den Kopf, als ich die Stallgasse entlanglaufe. Und plötzlich fühle ich mich wieder wie in Mr. Forleys Stall, als würde ich Golden Fall auf eine harte Springstunde vorbereiten. Auch sie hat mich immer so angeschaut, so aufmerksam und mit gespitzten Ohren. Ich habe es aber nie bemerkt, mir war es völlig egal, in welcher Stimmung Golden Fall war solange sie nur sprang. Und das tat sie ja.

Heute fällt es mir auf, heute bin ich genauso aufmerksam, wie Golden Fall es war, Illusion ist und ich es immer hätte sein sollen. Ich achte auf Illusion und richte mich so weit es geht nach ihm. Das hätte ich auch bei meiner Stute machen sollen. Etwas Gutes hat Golden Falls Tod also. Er hat mich aufgeweckt und mich verändert. Und nun habe ich fast die Chance, neu anzufangen und, was noch viel wichtiger ist, mich zu bessern.

Bevor ich den Sattel behutsam auf Illusions Rücken gleiten lassen, streiche ich dessen Fell nochmal glatt. Dann lege ich den Gurt um den warmen Bauch und schnalle ihn in das erste Loch. Dem folgend wende ich mich seinem Kopf zu und trense den Holsteiner auf. Er öffnet brav das Maul, als ich ihm das Gebiss davorhalte und so kann ich es schnell hineinschieben und das Genickstück über die Ohren ziehen. Dann schließe ich alle Riemen, setze meinen Helm auf und führe Illusion zum Ende der Stallgasse, wo Olivy und Mom auf mich warten.
"Der Reitplatz ist da drüben", sagt Olivy und deutet auf den eingezäunten Platz neben dem Waschplatz. Ich laufe also los, Pferd und die beiden anderen im Schlepptau und mache mir schon wieder Sorgen. Was kann doch nur alles schief gehen. Ich saß seit dem Unfall nicht mehr auf einem Pferd und nun soll ich sofort auf ein mir wildfremdes Tier steigen und reiten, als ob nie etwas gewesen wäre. Wie soll das denn funktionieren?
Ich bin kurz davor, mich umzudrehen, Olivy die Zügel in die Hand zudrücken und abzuhauen. Und ich weiß nicht, was mich davon abhält, aber auch wenn alles in mir danach schreit, meine Knie zittern, meine Hände so sehr schwitzen, dass mir fast die Zügel aus der Hand rutschen - ich tue es nicht. Ich gehe trotzdem starr zum Reitplatz und reiße mich, so gut wie möglich, zusammen.

"Du siehst nicht gut aus, Penny.", bemerkt Mom, während ich die passende Länge meiner Bügel einstelle.
"Sie ist aufgeregt, stimmt's?", wirft Olivy ein. Ich versuche mich weitestgehend rauszuhalten und nicke alles nur ab. Eine besorgte Mom ist das letzte was ich gerade brauche.
Ich gurte ein letztes Mal nach, dann nehme ich die Zügel auf, drehe den linken Bügel zu mir, stelle meinen Fuß hinein und halte mich am Vorder- und Hinterzwiesel des Sattels fest. Olivy hält von der anderen Seite gegen.
"Bereit?"
"J..Ja"
Dann stoße ich mich mit dem rechten Bein ab, drücke mich hoch und schwinge mich in den Sattel. Den rechten Fuß lasse ich in den Bügel gleiten, danach setze ich mich aufrecht hin.

Das Gefühl ist überwältigend. Ich sitze im Sattel und schaue von oben auf Mom und Olivy herab. Illusion unter mir atmet ruhig und ist entspannt, seine Ohren zucken ab und zu, wenn er meine hektische Atmezüge bemerkt. Sofort versuche auch ich mich zu beruhigen, damit sich meine Anspannung nicht auf Illusion überträgt. Es gelingt nicht. Doch trotzdem bleibt er still stehen und wartet auf ein Zeichen von mir, sich in Bewegung zu setzen.
Ich atme noch einmal tief ein und aus, dann fasse ich die Zügel nach und berühre mit meinen Schenkeln leicht den Pferdebauch. Illusion schreitet auf der Stelle los und ich spüre die ausgreifenden Schritte. Sanft, wie ein Schiff, fühlt sich sein Schritt an, die kurze Erschütterung, wenn er auf den Boden kommt, ist kaum zu bemerken.
Ich fühle plötzlich so viel. Erleichterung, dass ich es geschafft habe und wieder im Sattel sitze. Angst, dass etwas schief läuft. Aufregung, Erwartung und Hoffnung. Ich habe diesen Schritt gewagt und mich wieder auf ein Pferd gesetzt. Ich lasse mich tragen und es fühlt sich an, als sei es das Normalste der Welt. Ich fühle mich zuhause, geborgen. Als hätte ich für lange Zeit meine Welt verlassen und bin nun wiedergekommen. Aber genau das ist es ja auch. Und es ist wirklich, wirklich schön, wieder dazusein.

Eine kleine, warme Träne kullert meine Wange herunter. Erst diese eine, dann eine zweite und es werden immer mehr. Aus meinem Schluchzen und Schiefen, bei dem Illusions Ohren schon immer wieder zu mir zucken, wird ein hemmungsloses Weinen. All die Gefühle, die ich in den letzten Tagen, Wochen aufgestaut habe, kommen nun auf einen Schlag heraus. Ich kann es beim besten Willen nicht stoppen, der Tränenfluss will kein Ende nehmen. Aber vielleicht ist es gut so, dass ich mal alles herauslasse. Gehört möglicherweise zum Neuanfang dazu.
Es vergehen Minuten und ich sitze immer noch schluchzend auf dem Pferd. Der sichtlich verwirrte Illusion dreht ohne zu Mucken seine Runden im Schritt außen herum. Mom und Olivy stehen in der Mitte des Platzes und schauen zu mir. Olivy verständnisvoll, Mom so,als würde sie auch weinen müssen.

Doch langsam beruhige ich mich wieder. Ich höre auf zu Weinen, wische die nassen Wangen mit meinem Ärmel ab und richte mich wieder ein wenig auf.
Zusammenreißen, denke ich, zusammenreißen!
Als ich dann wirklich ruhig bin, drücke ich meine Beine leicht an Illusion heran, welcher sofort zu traben beginnt. Es fällt mir, entgegen meiner Erwartungen, überhaupt nicht schwer, in den Takt zu kommen und leichtzutraben. Der schwungvolle Trab erleichtert mir das Aufstehen und so kann ich mich auf den Rest konzentrieren. Ich fange nach ein paar Runden an, erste Bahnfiguren zu reiten. Schlangenlinien, Zirkel, Handwechsel. Als diese gut funktionieren, steigere ich mich langsam und starte mit Schritt-Trab-Übergängen und Verstärkung und Versammlung innerhalb einer Gangart. Es klappt alles viel besser, als ich es überhaupt erwartet habe.

Entgegen meiner Erwartungen ist auch, dass ich es am Ende der Stunde wage, Illusion anzugaloppieren und ein paar Galopprunden zu drehen. Es ist wirklich unglaublich. Ich fasse langsam wieder Mut und Sicherheit, beginne, Illusion zu vetrauen und möchte letztenendes eigentlich nicht absteigen.

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"Wie war es?", fragt Dad sofort, nachdem Mom und ich zuhause eingetroffen sind.
"Unfassbar, wirklich! Es hat unglaublich Spaß gemacht, wieder zu reiten!", antworte ich begeistert. Und so unterhalten wir uns noch lange Zeit, reden über Pferde, über mich und meine reiterliche Zukunft. Und als ich dann abends ins Bett steige, habe ich zum ersten Mal wieder das Gefühl, dass ich etwas geschafft habe, etwas, das mir hilft. Und ich verspüre wieder Hoffnung.

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