Zehn

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Über den Streit hat keiner von uns in den nächsten Tagen ein Wort verloren. Uns allen war klar, dass es an der derzeitigen Situation liegt, in der wir uns befinden und dass wir unsere Bestes geben sollten, das Positive zu sehen. Und tatsächlich habe ich nach langer Zeit mal wieder einen kleinen, winzigen Lichtblick.
Heute will Olivy mit Illusion und mir die ersten paar Cavalettiübungen und vielleicht auch schon erste flache Sprünge wagen. So aufgeregt war ich seit der ersten Reitstunde nicht mehr. Es fühlte sich an, als würden tausende von Insekten in meinem Bauch umherkrabbelm und mich immer wieder in den Bauch piksen, so gespannt bin ich. Auch meine Eltern bemerken meine Aufregung und versuchen mich mit kleinen Scherzen aufzuziehen, vergeblich, denn ich habe auf Durchzug geschalten. Erst als Mom sagt, dass ich ins Auto steigen kann, damit wir losfahren können, werde ich hellhörig und springe sofort vom Sofa auf und stoße dabei versehentlich Dads Teetasse um. Auf mein gemurmeltes "Sorry" antwortet er nur abwinkend mit: "Mach, dass du hier rauskommst!". Und schon sitze ich, vor Erwartung zitternd im Auto.
"Penny, du springst doch nicht das erste Mal! Kein Grund zur Aufregung!", meint Mom, während wir über die Landstraße brausen.
"Aber es ist das erste Mal seit dem Unfall!", erwidere ich und kaue wild auf den Lippen herum.
"Und? Du hast doch selbst gesagt, dass du keine Angst hast." Sie schaut mich prüfend an, als ob sie nur darauf wartet, dass ich klein beigebe.
"Hab ich auch nicht!", versuche ich überzeugend gegenzuwirken, doch ich muss zugeben, jetzt, wo es soweit ist, habe ich schon ein mulmiges Bauchgefühl...
Es stimmt, ich springe nicht das erste Mal und Illusion auch nicht. Also spricht eigentlich nichts dagegen, dass wir es zusammen auch schaffen. Doch tief in mir macht sich langsam eine leise, fast unauffällige Angst breit, die ich fast nicht bemerkt hätte. Aber sie krabbelt von unten durch meinen ganzen Körper und verleiht mir das Gefühl von Schwäche, dass ich es nicht schaffen würde. Es zerreißt mich, als ich daran denke, dass Olivy das anscheinend vorhergesehen hat, als sie zu Mom meinte, dass ich vielleicht Muffensausen bekommen würde. Und leider habe ich die, dabei sitze ich noch nicht einmal auf dem Pferd.

Langsam rollen wir den nun schon vertrauten Weg entlang, bis Mom den Motor vor dem Gutshaus abwürgt. Und in dem Moment wird mir speiübel.
"Mom? Ich glaub, ich schaff das nicht."
Überrascht dreht sie sich zu mir und nimmt die Hand von der Türklinke, welche sie gerade öffnen wollte.
"Ist alles okay? Du warst doch eben noch der Meinung, alles wäre gut."
Ich nicke, starre betreten auf den Boden."Ich weiß, aber ich glaube, Olivy hat Recht. Ich habe wirklich Angst zu springen."
Aufmunternd legt Mom einen Arm um mich und drückt mich einmal fest."Das wird schon, du wirst sehen, morgen lachst du drüber!"
Das hoffe ich.

"Reite zuerst ganz normal, Seitengänge, Verstärkung, Versammlung, Übergänge, alles, was dir so einfällt.", weist Olivy mich an, als ich mich auf Illusion setze und die Zügel aufnehme. Längst habe ich mich wieder daran gewöhnt, auf dem Pferderücken zu sitzen und weitere Gefühlsausbrüche wie der erste blieben mir erspart. Und auch reiterlich habe ich mich in der Nichtreitzeit kaum verschlechtert, sodass ich dressurmäßig wieder auf meinem Stand bin. Es ist ein tolles Gefühl, zu wissen, dass man selbst nach einer so langen Pause immernoch kann. Es macht mich stolz, dass ich so wenig verlernt habe.
Langsam beginne ich, mit Illusion zu arbeiten. Sofort wölbt sich sein grauweißer Hals und sein Rücken schwingt, was mir das Sitzen erheblich leichter macht. Nach ein paar Schlangenlinien habe ich ihn sowohl rechts, als auch links locker und kann mit der eigentlichen Arbeit beginnen. Trab-Schritt-Übergänge. Schrittverstärkung und -versammlung, Trabverstärkung und -versammlung, Halten, Vor- und Hinterhandwendungen, Seitengänge.
Es klappt wie am Schnürchen. Und nachdem ich auf beiden Händen jeweils eine Bahn galoppiert bin, öffnet Olivy das Gatter und ich reite quer über die Anlage zum Springplatz.
"Ich lege ein paar einzelne Stangen auf den Boden, da kannst du rüberkommen.", sagt meine Trainerin und nimmt sich die erste Stange. Während sie noch "aufbaut", reite ich in allen drei Gangarten um die hohen Hindernisse herum, um Illusion alles zu zeigen und ihn rundzumachen. Er soll entspannt und locker laufen, auch wenn viele Hindernisse um ihn herumstehen.
An seiner Körperhaltung merke ich, wie sehr er darauf brennt, mal wieder zu springen. Er läuft viel schwungvoller, strotzt plötzlich vor Energie, die Ohren aufmerksammund erwartungsvoll nach vorn gerichtet.
Ich selbst verliere langsam den Mut. All diese Hindernisse um mich herum lassen mich an meinen letzten Pavours erinnern, in dem alles schief ging. Auch wenn wir heute überhaupt nicht hoch springen wollen, so habe ich trotzdem ein wenig Angst.
"So, kannst kommen!", ruft Olivy von unten. Ich verlasse meine sichere Zirkellinie und reite im Trab nach unten zu C. Dort liegt eine grünweiße Stange auf dem Boden und lächelt mich förmlich an. Entschlossen beiße ich die Zähne zusammen, habe alle Hilfen dran und steuere auf diese Stange zu. Illusion bleibt im Gegensatz zu mir völlig ruhig. Erst als er meine Verspannung bemerkt, beginnt auch er fest zu werden, doch er läuft brav weiter. Ein, zwei, drei.
Es ertönt ein dumpfes Geräusch und Illusions Taktreinheit geht für ein paar Sekunden verloren. Sofort pariere ich in den Schritt durch und sehe erschrocken zu Olivy. Diese schaut mich mit sanften Blick an.
"Alles okay, Penny", beruhigt sie mich,"Er ist nur auf die Stange getreten, alles gut. Versuch es gleich nochmal, das wird schon."
Ich schlucke stark. Eigentlich würde ich jetzt lieber aufhören und absteigen, doch das ist wohl gerade, Olivys aufforderndem Blick nach, keine Option. Also nehme ich die Zügel kürze und trabe wieder an.
"Lass ihn einfach machen.", sagt Olivy. "Er kann das. Du musst nur versuchen, ihn nicht zu stören."
Langsam wende ich ab, in die Ecke rein.
"Hände ruhig, das Bein geschlossen."
Jetzt aus der Ecke raus, gerade richten.
"Zügel ein wenig lockerer, versuche dich nicht zu verkrampfen."
Nur noch drei Meter.
"Ausatmen!"
Ausatmen. Eins, zwei, drei.
Hopp und drüber! Und dieses Mal ohne irgendwelche Zwischenfälle.
"Na siehst du, funktioniert doch!"
Erleichterung durchflutet meinen gesamten Körper. Hoffnung füllt sich und gibt mir Energie. Ich kann das schaffen, ich muss mich nur zusammenreißen. Den Fakt, dass es nur eine einzelne Stange, flach auf dem Boden liegend, ist, übersehe ich geflissentlich.
Nachdem ich noch ein paar Mal im Trab und im Galopp über diese eine Stange gekommen bin, zeigt Olivy auf zwei hintereinander positionierte Stangen. Wenn man so will, stellen sie eine klitzkleine, auf dem Boden liegende Kombination dar. Ich soll im Galopp über beide reiten, mit zwei bis drei Galoppsprüngen dazwischen, so, wie es gerade passt.
Zuerst reite ich einmal im Galopp außenherum über den Platz um Illusion sich strecken zu lassen. Wenigstens er soll tiefenentspannt sein, wenn ich es schon nicht schaffe.
Dann steuere ich auf die erste Stange zu. Ruhig, Hände unten, Bein dran, Atmung, locker sitzen, nicht verkrampfen. Die erste ist somit überwunden. Doch vor lauter Konzentration auf diese erste Herausforderung habe ich völlig vergessen, dass ich danach ja noch weiterreiten muss, weshalb ich die Hilfen nicht ordentlich dranhabe und mir Illusion sozusagen flöten geht. Er springt aus der Kombination hinaus und schlittert haarscharf an dem danebenstehenden Sprung vorbei. Vor lauter Schock weiß ich erstmal nicht, was ich machen soll.
"Zügel wieder aufnehmen, Beine zu und nochmal!", lautet Olivys Anweisung. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich sie verstehe und befolgen kann, da ich noch total verwirrt bin. Doch dann fange ich mich wieder und galoppiere korrekt an, wende auf die Zirkellinie ab und lenke meinen Apfelschimmel auf die Kombination.
Erste Stange wie beim vorherigen Mal geschafft, danach denke ich angestrengt an die zweite Stange und drücke das äußere Bein fest an den Pferdebauch, dass mir Illusion ja nicht ausläuft. Doch dieser scheint das als Aufforderung zum Schnellerwerden zu sehen und gibt dementsprechend ein wenig mehr Tempo. Die Abstände stimmen nun nicht mehr und fast wäre er wieder auf die Stange getreten, wenn er nicht im letzten Moment "abgesprungen" wäre und sich über dieses Hindernis hinüberbugsiert hätte. Da ich auf so etwas nun gar nicht gefasst bin, gelange ich vollkommen hinter die Bewegung und hänge ihm mit meinem komplette Körpergewicht in den Zügel. An solch eine Behandlung ist der Wallach jedoch nicht gewöhnt, weshalb er sich sofort sperrt und das Maul so weit es geht aufreißt, um den Druck dort zu mildern.
Es tut mir unendlich leid, was ich ihm antue, doch es scheint, als sei ich völlig unfähig geworden, was das Springen betrifft. Ich hätte es wissen müssen. Schon als das mit der einzelnen Stange nicht funktioniert hat, hätte ich abspringen und "Auf Wiedersehen" rufen müssen. Ich kann es einfach nicht mehr.
Langsam merke ich, wie mir die Tränen in die Augen schießen.

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