"Da kommen sie!"
Olivy stellt ihre Kaffeetasse so schnell ab, dass ein wenig von dem Gebräu auf den Tisch schwappt. Dann springt sie auf und läuft quer über die Terasse hinüber zum Hof. Mom und ich folgen ihr, ebenso aufgeregt und hektisch. Ein kurzer Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass es sieben Minuten nach zwei ist. Es kann also nur Thomas Buhn mit der Stute sein, die wir schon sehnsüchtigst erwarten. Seit heute morgen um neun sind Mom und ich hier auf Olivys Hof und vertreiben uns die Zeit mit Pferdepflege, Boxen misten, Stallgasse fegen und Sonstigem. Olivy meinte zwar, wir müssten nicht so früh kommen, aber so aufgeregt wie wir beide waren, konnte niemand von uns verlangen, stundenlang in der Wohnung herumzulungern.
Als wir neben Olivy auf dem Hof stehenbleiben und uns suchend umsehen, zeigt diese mit dem Finger auf die Einfahrt.
"Da hinten. Der Rote dort.", erklärt sie und hebt winkend eine Hand, um dem Fahrer den Weg vorzugeben. Langsam rollt der Wagen auf den Hof und fährt einmal um uns herum um zu wenden. Ein lautes, rufendes Wiehern erschallt, als der Hänger an uns vorbeibiegt. Anscheinend hat die Stute unsere Stimmen gehört und möchte nun unbedingt und möglichst schnell hinaus.
Nachdem der Motor verstummt ist, springt ein große, kräftig gebauter Mann Mitte sechszig hinaus und begrüßt Olivy mit einem festen Händedruck.
"Schön, dich zu seh'n, Olive!", meint er schmunzelnd zu der jungen Frau, die sofort in schallendes Gelächter ausbricht.
"Ach, Thomas, ich dachte, die Zeit dieses Spitznamens wäre vorbei!" Dann beruhigt sie sich wieder und weist auf den Anhänger. "Wie lief's mit ihr?"
Thomas gibt bereitwillig Auskunft umd berichtet: "Alles gut, bis wir von der Autobahn runter sind. Da hat sie dann plötzlich angefangen zu trampeln und sich gegen die Hängertür zu werfen." Der Mann tippt sich augenverdrehend mit dem Finger an die Stirn. "Die spinnt schon ein bisschen! Dachte fast, dass der Wagen hier umkippt, so'ne Kraft hat die. Solltest du weniger füttern, wenn du 'n ordentliches Sportpferd haben willst. Für wen ist sie denn?"
Olivy deutet auf mich und erklärt kurz meine Situation, dass ich mich ohne Pferd durch die Reiterwelt zu schlagen versuche. "Ich habe gedacht, die beiden passen vielleicht zusammen. Wir haben es zwar schon mit dem guten Illusion versucht, der war aber zu unsicher."
"Nun, an Selbstbewusstsein fehlt's der hier bestimmt nicht!", meint Thomas Buhn und nickt dann leicht mit dem Kopf Richtung Hänger, wo auch die Stute wieder zu randalieren beginnt. "Hol' sie mal schnell raus, Reperatur wär teuer, kann ich dir sagen.", fordert er mich auf und ich lasse mich nicht zweimal bitten. Schnell husche ich zur Hängertür, heble die Riegel aus und löse alle Sperren. Olivy springt vorne in den Hänger rein und bindet das aufgeregte Pferd ab.
"Klappe auf!"
Langsam lasse ich die Wand hinunter, Mom kommt mir zu Hilfe. Dann legen wir die schwere Platte auf den Boden und ich hake die Vorlegestange aus. Ein dunkelbrauner, gut bemuskelter Pferdepo ist vor mir, der schwarze, von Stroh verschmutzte Schweif schlägt nervös hin und her. Dann ertönt das Kommando "Achtung, Pferd!" und Olivy schiebt sie sanft nach hinten. Mom und ich achten darauf, dass die Stute auf der Spur bleibt und nicht zur Seite ausbricht. Doch entgegen aller Erwartungen bleibt sie vollkommen ruhig und steht letztendlich still neben dem Hänger. Zwar pumpt ihr Herz so laut, dass man es fast hören kann, und die Flanken heben und senken sich in unglaublicher Geschwindigkeit, doch sie hampelt weder rum, noch versucht sie auszubrechen oder sich loszureißen.
Jetzt bietet sich mir die Chance, meine neue Stute im Ganzen zu betrachten. Trotz des schweißnassen Felles sieht sie sehr edel aus, die Mähne ist lackschwarz, die Beine ebenso. Den Kopf trägt sie hoch erhoben und stolz reckt sie den Hals. Es scheint, als sei sie sich ihrer Wirkung auf andere vollkommen bewusst und genießt die Bewunderung. Wachsam huscht ihr Blick von einem Menschen zum nächsten, die kleinen Ohren sind interessiert nach vorn gerichtet, zucken nur gelegentlich nach hinten, wenn eines der anderen Pferde schnaubt. Sie ist, kurz um, eines der wunderbarsten Geschöpfe, die ich bisher gesehen habe.
"Na, da hast du dir aber jemanden ausgesucht!", bemerkt Mom, die die Stute ebenfalls tiefgründig gemustert hat. Ich nicke einfach nur.
"Sie ist 'ne ganz Nette, würd' ich mal sagen", schaltet sich jetzt Thomas ein,"Hat vielleicht 'n kleinen Tick, aber Temperament genug, um mit den Großen mitzuhalten."
"Sieh sie als hässliches Entlein.", schlägt Olivy vor, "Weißt du? Das kleine schwarze Ding, das später ein Schwan wird? Nun, sie ist gerade noch das Entlein und du machst sie zum Schwan, so einfach ist das!"
Diese Bemerkung ist so unpassend und doch so perfekt, dass ich nur lachen kann. Auch Mom steigt ein und keine Sekunde später stehen wir alle vier lachend auf dem Hof. Eigentlich lache ich nun nicht mehr über die Erzählung, sondern mehr, weil es so erleichternd und befreiend ist, so richtig zu lachen. Lange Zeit hatten wir alle wenig Grund, Spaß zu haben, und nun auf einmal fällt von uns allen eine riesige Last ab.
Später werde ich mich an diesen Moment noch gut erinnern können, denke ich. Die erste Begegnung mit dem Wunderpferdchen wird mir nun immer positiv in Erinnerung bleiben. Da fällt mir auf, dass ich ihren Namen überhaupt nicht kenne.
"Olivy?", frage ich, wie aus der Pistole geschossen, " Wie heißt sie eigentlich?"
Olivy beruhigt sich sofort und erklärt: "Einen richtigen Namen hat sie nicht. Wir nannten sie immer nur -"
"Schraube!", ruft Thomas ein.
"Schraube?", fragt Mom sichtlich verwirrt.
"Ja, Schraube", kichert er, "Als sie noch 'n Fohlen war, noch 'n kleiner Hüpfer von acht Monaten, da isse immer vor Freude in die Luft gesprungen, wenn sie raus auf die Weide durfte und hat sich in der Luft gedreht wie 'ne lose Schraube. Jedes Mal, jeden Morg'n! Das sah vielleicht ulkig aus!"
"Aber wir können sie doch schlecht so als Turnierpferd eintragen lassen!", protestiere ich, auch wenn ich die Hintergrundgeschichte sehr lustig finde.
"Natürlich nicht!", stimmt Olivy mir zu, "Aber wie gesagt, einen richtigen Namen hat sie nicht. Und weil sie noch keine internationalen Turniere gegangen ist, sondern immer nur Hausturniere und ähnliches, brauchte die keinen eingetragenen Namen. Ich würde sagen, du kannst dir einen aussuchen."
Diese Nachricht überrascht mich. Ich soll mir einen Namen aussuchen? Für die kleine, aufmüpfige Stute, die sonst "Schraube" genannt wurde?
"Aber ich weiß noch gar nicht,...", beginne ich verzweifelt, doch Olivy unterbricht mich.
"Ihr Vater heißt For Fighter, müsste also mit 'F' beginnen."
"Flughörnchen!", wirft Mom ein und deutet auf die Stute mit 'F'. Just in diesem Moment dreht diese die Hinterhand um, wirft die Vorderbeine in die Luft, stößt ein schrilles Wiehern aus und springt fast einen Meter aus dem Stand nach oben, bevor sie dann schwer atmend auf dem Boden ankommt und sich herausfordernd nach uns umsieht.
"Was war denn das?", fragt Olivy verblüfft, die als erste die Sprache wiederfindet.
"Keine Ahnung, aber ich glaube, die wollte einfach nur 'n bisschen Aufmerksamkeit, so, wie die jetzt guckt!", vermutet Thomas und runzelt die Stirn. Ich muss schlucken. Auf der soll man reiten können? Auf der soll ich reiten können?
"Lass dir keinen Schrecken einjagen, Penny! Sie ist halt noch ein wenig impulsiv...", meint Olivy zögerlich, scheint aber wenig von ihren eigenen Worten überzeugt. Ich schaue sie nur zweifelnd an.
"Ich glaube, wir sollten sie in die Box bringen, nicht?", schlage ich vor, um weitere Kunststückchen der Stute zu verhindern.
"Keine schlechte Idee...", stimmt Mom mir zu.
"Und nachher lassen wir sie nochmal laufen, ja?", lautet Olivys Vorschlag. Ich nicke ihr zu und nehme dann vorsichtig den Führstrick in die Hand. Nach einer kurzen Aufforderung setzt sich die wie aufgelanden wirkende Stute in Bewegung und tänzelt unruhig neben mir her. Sicherheitshalber lasse ich eine Hand an ihrer verschwitzten Schulter um sie notfalls von mir wegzudrücken, sollte sie aus unerfindlichen Gründen auf mich springen wollen.
"Wie das wohl werden soll, hm?", frage ich sie leise. Bei dieser Bemerkung zuckt eines ihrer Ohren schnell zu mir und ihr Blick huscht auf mich. Sie ist also schon aufmerksam, was ein gutes Zeichen ist. Beruhigend tätschle ich ihr den Hals und führe sie dann in den Stall in ihr neues Zuhause. In ihr Leben, mit mir an ihrer Seite.-------
Wuhu, ich glaube, ich hab noch nie so ein langes Kapitel geschrieben. Fällt es überhaupt auf, das es länger ist? 😂
Egal, wollte euch nur noch eine gute Restwoche wünschen :)
DU LIEST GERADE
In your head
DiversosNach einem unerwarteten Ende der Springkarriere als Nachwuchsreiterin findet Penelope Kron sich plötzlich wieder ganz unten. Ihr ehemaliges Pferd ist verstorben, ihr Vertrauen zu den Vierbeinern hat sie verloren, ihr Trainer will ihr nicht helfen, s...