Sechs

105 8 0
                                    

Es vergehen viele Tage, die ich einfach nur im Bett liegen und über mich und den Rest der Welt nachdenke. Wieso ist Gras grün? Weshalb haben Spinnen acht und nicht sechs Beine? Warum hat Italien die Form eines Stiefels? Wieso musste Golden Fall sterben?
Spätestens bei dieser Frage bleibe ich immer hängen. Und egal, wie sehr ich mir den Kopf zerbreche, ich komme auf keine sinnvolle, erleuchtende Erklärung. Es ergibt für mich keinen Sinn, dieses Tier zu töten. Und doch hat man es getan.

Der Himmel draußen vor meinem Fenster ist dunkel und kalt. Starker Wind wirbelt die Blätter umher, die langsam beginnen, abzufallen. Es wird immer kühler, jeder, der das Haus verlässt, nimmt vorsichtshalber einen Regenschirm mit.
Plötzlich habe ich den Drang, aufzustehen, etwas zu tun. Ohne zu Zögern werfe ich meine Bettdecke beiseite, schwinge die Beine über die Bettkante und stemme mich hoch. Kurz ist mir schwindelig, da ich mich so schnell erhoben habe, aber nach ein paar Schritten durch mein Zimmer verlässt mich das Schwindelgefühl.
Ich tapse nun vorsichtiger aus meinem Zimmer, in den Flur und dann die Treppe hinunter. Unten sitzt Mom in der Küche und liest sich durch verschiedene Kataloge. Dad ist nicht da, wahrscheinlich kauft er gerade ein.

"Penny!", ruft Mom erfreut, als ich durch den Türrahmen komme und sie mich bemerkt. "Brauchst du irgendetwas? Geht es dir nicht gut?"
Das ist typisch für meine Mutter. In der letzten Zeit behandelt sie mich wie ein rohes Ei. Ständig kommt sie in mein Zimmer, fragt, ob es mir gut geht oder ob ich etwas brauche, unterhält sich mit mir und sobald irgendetwas ihrem Anschein nach nicht stimmt, springt sie auf und sucht nach einer Lösung. Es ist süß, ja, und ich bin froh, dass sie sich um mich sorgt, aber ich muss nicht betüttelt werden wie eine Sechsjährige.

"Mom, mir geht's gut, ehrlich!", antworte ich wahrheitsgemäß, "Ich brauche nur etwas zu tun!"
Erwartungsvoll sehe ich sie an. Mom schaut etwas überrascht zurück, legt den Katalog aus der Hand und fragt dann:
"Etwas zu tun? Ich... okay... wir, wir werden schon etwas finden!"
"Nein, ich möchte..."
Da stocke ich. Weil ich nicht weiß, wie sie reagieren wird und weil es sich komisch anfühlt, danach zu fragen.
"Ja?"
"Ich möchte wieder reiten."
Stille.
Vielleicht habe ich sie doch zu früh damit konfrontiert. Ich hätte warten sollen, ja. Mist. Gerade will ich den Mund öffnen und sagen, dass es schon okay ist, dass ich noch warten kann, doch Mom kommt mir zuvor.
"Oh, das ist, ja, das ist schön. Natürlich. Ich werden einen Termin ausmachen, selbstverständlich nicht bei Mr. Forley. Ich schau mich mal um, wenn ich jemanden gefunden habe, sage ich dir Bescheid, okay? Ich finde es echt toll, dass du weiter machst! Ich bin stolz auf dich, superstolz!"
Nun bin ich an der Reihe, überrascht zu sein. Sicher, ich habe mir gedacht, dass Mom sich ein wenig freut, aber so viel Begeisterung ist unerwartet. Trotzdem merke auch ich, dass es nir gut tut, Menschen glücklich zu sehen, auch wenn es mir nicht gut geht.

Ich warte nicht einen Tag, da kommt Mom um die Mittagszeit in mein Zimmer gestürmt und teilt mir eine wunderbare Nachricht mit:
"Ich habe jemanden gefunden! Olivy Tollison, sie hat hier in der Nähe einen kleinen Hof. Ich frage mich, wieso ich sie nicht schon früher bemerkt habe. Die Website sieht vielversprechend aus, besser als Mr. Forleys allemal! Und einen Termin habe ich auch schon ausgemacht, wenn du möchtest, kannst du morgen schon hin und dir alles mal anschauen!"
In den ersten paar Sekunden bin ich zu überwältigt, denn wenn ich ehrlich bin, geht mir das nun zu schnell! Doch ich bin genauso gespannt auf diese Olivy Tollison wie Mom.
"Das ist ja toll! Es wäre schön, wenn wir uns den Hof und die Pferde ansehen könnten! Ich freue mich, wirklich!"
"Ich auch, Penny! Mein Gott, ich bin so aufgeregt!"
Und fröhlich grinsend verlässt sie mein Zimmer. Und ja, auch ich bin wahnsinnig aufgeregt! Immerhin hatte ich ja seit Golden Falls Besuch nichts mehr mit Pferden zu tun.

In dieser Nacht schlafe ich schlecht. Vielleicht liegt es daran, dass es draußen gewittert, als gäbe es kein Morgen. Vielleicht liegt es aber auch an dem Albtraum, der mich in dieser Nacht plagt. Ich sehe Golden Fall vor mir, will sie berühren und ihren Herzschlag fühlen, doch als ich meine zitternde Hand nach ihr ausstrecke und sie fast schon spüre, weicht sie erschrocken zurück. Hinter jedoch ist nicht der feste Boden, wie erwartet, sondern eine steile Klippe und ohne dass ich etwas dagegen tun kann, stürzt Golden Fall diese hinab. Ein letztes verzweifeltes Wiehern erschallt noch aus den Tiefen, dann sehe ich tosenden Wellen über sie zusammenschlagen. Fort.

Schweißgebadet wache ich am nächsten Morgen auf. Sofort springe ich aus meinem Bett und renne in das nebenliegende Badezimmer, um mich im Spiegel zu betrachten. Ein schockiert wirkendes Mädchen starrt mich erschrocken an, die Augen sind trüb und glanzlos, jedoch weit aufgerissen. Der Hals ist schweißbedeckt und auch meine Haare hängen nass über meinen Schultern.
Um erstmal einen freien Kopf zu bekommen, drehe ich den Wasserhahn vom Waschbecken auf, stelle das Wasser so kalt wie möglich und spritze mir das kühle Nass mit den Händen ins Gesicht. Sofort merke ich, wie sich mein überhitzter Körper abkühlt und sich meine hektische Atmung beruhigt. Ich tupfe mir anschließend mein Gesicht mit einem Handtuch ab und mache mich dann wieder auf den Weg in mein Zimmer.

"Wie geht es dir?", fragt Mom mich noch bevor ich überhaupt die Autotür schließen kann.
Ich lasse mich in den Sitz fallen und schnalle mich an.
"Ganz okay"
"Aufgeregt?"
Sie dreht den Schlüssel um und der Motor heult auf.
"Kann man so nennen"
Ich wende den Blick vom Amaturenbrett ab und sehe aus dem Fenster neben mir.
"Ich glaube", sagt Mom, "es wird dir dort gefallen."
"Ja?"
"Ja, diese Olivy schien eine ganz nette Person zu sein, aber das habe ich dir ja schon gesagt."
Stumm nicke ich. Ich bin viel zu nervös um irgendein ordentlichen Satz rauszukriegen. Starr blicke ich weiterhin aus der Scheibe und sehe die Felder an uns vorbeiziehen. Dass es nachts gewittert hat, lässt sich nicht vermuten, im Gegenteil. Die Natur scheint ruhig und leise vor sich hinzuleben, langsam wagen sich die ersten Sonnenstrahlen über die Baumwipfel und tauchen die Wälder in ihr rotgoldenes Morgenlicht. Vereinzelt sieht man Rehe am Waldrand stehen und Raubvögel über die Welt gleiten. Alles scheint so gelassen und entspannt. Als wäre es ein ganz normaler Tagesanbruch und nichts besonderes stände bevor.

Ganz anders sieht es in mir drinnen aus. Das Gewitter scheint wohl von außerhalb des Hauses in mich hineingewandert zu sein. Meine Gefühle gehen rauf und runter. Einerseits die Vorfreude, endlich wieder Pferde zu sehen und mit ihnen arbeiten zu dürfen, andererseits die Angst vor dem Versagen und vor dem Neuanfang.

In your headWo Geschichten leben. Entdecke jetzt