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Yaver legte den Brief vorsichtig auf den Tisch. Er sah zerknittert aus und hatte ein eilig aufgetragenes Siegel. Es hat die Form einer Lotusblüte und auf den beiden Seiten ist eine am Ende nach aussen gerundete Linie zu sehen.
Trotz meinen, zwar schmalen, aber dennoch vorhandnen Kenntnissen, konnte ich dieses Siegel nicht seinem Land zuordnen. Vorsichtig öffne ich den Brief und lese ihn durch:

Sorge dich gut um Amira und........
Ich und die Götter werden....

Das Ende ist verschmiert und kaum lesbar. Man erkennt nur noch, dass im Briefende jemand unterschrieben hat. Die Schrift selbst sieht etwas verwackelt aus. Wahrscheinlich zitterte der Schreiber oder war sich die Feder nicht gewohnt.

Nachdenklich sehe ich auf und begegne dem neugierigen Blick von Yaver. Als ich nichts sage, fragt er zögernd:
"Was denkt Ihr, Eure Hoheit?"

"Ich denke darüber nach, wieso Amira so schweigt", rutscht es mir heraus. "Haben Sie sie jemals reden gehört?"

"Naja, bei der Begegnung mit mir und als sie mir den Brief gab. Ich wollte natürlich wissen, auf was ich mich da einlasse. Wir haben dann ein Bündnis gemacht, dass wir uns gegenseitig helfen. Sie macht den Haushalt und dafür darf sie bei mir wohnen."

"Erzählt genauer", fordere ich.

"Ich war am wöchentlichen Markt und bot meine Ware von andern Ländern an, als ich das Mädchen an mir vorbei torkeln sah. Sie wirkte auf mich erschöpft, vollkommen dehydriert und war ganz schmutzig. Sie sah so aus, als hätte sie einen langen Weg hinter sich und seelisch eine schwere Last zu tragen. Also bot ich ihr von meinem Trinkschlauch an. Sie reagierte dankbar und nahm ihn scheu an. Bald darauf kam die Frage nach einem Dach und Essen. Sie tat mir leid, also gestattete ich ihr den Zutritt in mein Heim. Nach zwei Tagen gab sie mir diesen Brief und bot mir ihre Hilfe im Haushalt an. Seit dem verfiel sie immer mehr ins Schweigen, bis sie ganz verstummte. Ich weiss nicht, was Amira endgültig dazu bewogen hat zu schweigen, aber sicher ist, dass sie oft ein verweintes oder gar ängstliches Gesicht hatte..."

"Angst?", hake ich nach. Ich weiss nicht, woher der Drang kommt, jeden zu töten, der ihr auch nur zu nahe kommt.

"Ja, mein Herr", bestätigt er, "aber ich bin selbst kein Spezialist für die Deutung solcher Gefühle."

Ich blicke nachdenklich auf die Tischplatte vor uns. Mir schwirren tausende Fragen im Kopf herum, die ich unbedingt beantworten will.
Vor was hat Amira Angst?
Wieso schweigt sie?
Woher kommt sie?
Und wer sind ihre Eltern?

Meine Gedanken werden von Sunil unterbrochen, der zum Aufbruch drängt. "Ihr Vater sorgt sich sicher schon und Ihre Besprechungen sind auch von grösserer Bedeutung als das hier!"
Ich musste wohl oder übel nachgeben, da meine Pflichten doch immer stärker rufen. Doch ich verspreche mir das Mädchen wieder zu besuchen.

Ich verabschiede mich kurz von Yaver und muss gleich losreiten. Im Stall treffe ich auf Amira, die meinen Shiran liebevoll versorgt. Ich beobachte sie eine Weile, bis sie mich bemerkt. Sie sattelt meinen Hengst wieder auf und senkt zum Abschied ehrfürchtig ihr Haupt. Dann galoppiere ich auch schon los.

Zurück im Schloss gehe ich mit raschen Schritten zum Arbeitszimmer meines Vaters.
Ich weiss, dass er wütend sein wird, weil ich mich solange in der Stadt rumgetrieben habe, doch ich klopfe trotzdem kräftig an die Tür. Ein herrisches "Herein" erklingt und ich versuche selbstsicher die Tür zu öffnen. Der Versuch scheitert beim Anblick meines Vaters und Königs: Er sieht angespannt aus und bedenkt mich eines agressiven Blicks.

Augenblicklich schrumpfe ich in mir zusammen und warte auf seine Predigt. Ich höre, wie er von seinem Schreibtisch aufsteht, doch wider Erwarten geht er zum Fenster und sieht hinaus.

"Ich habe dieses Reich lange regiert. Ich habe einen Nachfolger, der es übernehmen und gut weiter pflegen soll", beginnt mein Vater. "Leider treibt sich dieser Nachfolger ständig in irgendwelchen Gassen der Stadt rum und verweigert sich seinen Pflichten! Würde er sich um sein Reich kümmern, hätte er bemerkt, wie es um es steht!" Er wird immer lauter und ich zucke bei jedem Wort leicht zusammen.

"Kian, ich weiss nicht, wo du dich immer umher treibst, aber dies hat nun ein Ende! Deine Mutter hätte sich gewünscht, dass du auf dein baldiges Reich und auf deine Untertanen aufpasst.", spricht mein Vater ruhig weiter, aber ich höre, wie seine Stimme leicht zittert. Irgendetwas stimmt nicht.

"Vater, was ist passiert?", wage ich zu fragen. Mein Vater seufzt und schiebt mir einige Berichte und eine Landkarte von allen Ländern der Wüste hin. Auf der Landkarte wurde immer wieder mit roter Tinte die Grenzen eingezeichnet. Erst jetzt bemerke ich, dass es keine normale Karte ist: Es ist eine Kriegskarte!

"Wir befinden uns im Krieg?", frage ich ungläubig.

"Ja. Vor einigen Wochen hat uns Terken von Zatren den Krieg erklärt. Er will sein Reich vergrössern. Und das mit allen Mitteln.", antwortet mein Vater. Ich höre die Verzweiflung in seiner Stimme.

Wir sind ein friedliches Land und wollen dies auch bleiben. Natürlich haben wir auch Kriegstruppen, doch es gibt andere Reiche, die mehr vom Krieg verstehen und umsetzten als wir.

Ich schaue auf die Karte. Zatren liegt nordöstlich, bei den grossen Regenwäldern. Es ist gross und ich sehe, dass sie ihre direkten Nachbarn schon eingenommen haben. Also ist nicht nur Malem bedroht. Die Daten, die an den roten Grenzen geschrieben stehen, zeigen deutlich, dass die Eroberungszüge und Kriegshandlungen schon seit über einem Jahr stattfinden.

"Späher und unsere Verbündeten gaben an, dass sie nun durch die grosse Wüste kommen, da die Berge im Moment nur schwer pasierbar sind", spricht mein Vater weiter. Malem liegt am südlichsten Rand der grossen Wüste. Nach Westen sind wir von einer grossen Gebirgskette geschützt und nach Osten erstreckt sich eine kahle Steppe.

"Wann werden sie eintreffen?", frage ich besorgt nach.

"Sie werden wahrscheinlich erst unsere Nachbarn einnehmen... Ich schätze in einem Monat, aber es sind alles noch Spekulationen. Wir wissen noch sehr wenig...", seufzt mein Vater.

"Die Zeit reicht gerade noch um unsere Truppen nach dem Nötigstem zu rekrutieren, damit sie für eine Verteidigung bereit sind", überlege ich laut. "Wir müssen uns vorbereiten!"

"Endlich denkst für das Reich!", schnaubt mein Vater. "Lass uns beginnen!"

Wir rufen unsere Berater und Strategen in den grossen Saal und arbeiten bis tief in den Abend. Unser Plan steht fest:

Wir würden unsere Truppen rekrutieren und unsere Wasser und Nahrungsvorräter aufstocken und einteilen. Einige Späher werden ebenfalls ausgeschickt, um das Geschehen bei den Nachbaren und in der Wüste zu beobachten. Auch werden wir Stadtmauern verstärken und Warnsignale anbringen. Es werden Wachen zum Schutz auf der Mauer postiert.

Somit sind wir auf das Gröbste vorbereitet und ich gehe erschöpft in mein Gemach. Meine Diener entkleiden mich und helfen mir ins Bad. Erst als ich im Bett liege, mache ich mir Gedanken über Amira. Ich mache mir Sorgen um sie. Ich will, dass sie in Sicherheit ist. Ich denke noch einige Zeit über sie nach, frage mich, was sie unter ihrer Verhüllung versteckt, und wieso sie schweigt. Mit dem letzten Gedanken an ihre wunderschönen grünlichen Augen schlafe ich ein.

Ihre AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt