Amira
Als der Prinz gegangen war, machte ich das Abendbrot bereit. Yaver war nochmals in die Stadt gegangen, um einen Freund zu besuchen.
Ich schnitt gerade das Brot, als ein Klopfen an der Tür ertönte. Es war keines der Klopfmuster, die ich mit Yaver ausgemacht hatte. Ich hatte mit ihm ausgemacht, dass ich niemandem ohne Klopfmuster öffnete. Dies war mein Entscheid. Ich wollte unentdeckt bleiben, denn die Wahrscheinlichkeit war gross, dass mich Terken immer noch suchte.
Es wurde nochmals geklopft und dann hörte ich ein sich wiederholendes Schaben. Ich stand wie versteinert da und war mir nicht sicher, was ich zu tun hatte. Im nächsten Augenblick war alles wieder still.
Langsam, mit den Händen an meinen Dolchen, schlich ich auf die Tür zu. Ich horchte erst an ihr, doch ich konnte nichts hören. Zögerlich öffnete ich die Tür und spähte auf die Strasse. Als ich nichts sah, trat ich zögernd heraus.
Da fiel mir eine Kreide auf, die vor der Schwelle lag. Ich drehte mich zur Tür um und erstarrte erneut:
"GEFUNDEN"
Dieses eine Wort stand klar und deutlich auf dem abgewetzten Holz.
"Verdammt. VerdammtVerdammtVerdammt!!", schreie ich in Gedanken.
Ich versuchte mich zu beruhigen und wollte meine verkrampften Muskeln entspannen. Ich hatte das starke Bedürfnis, mich auf der Stelle umzubringen.
Ich wollte nicht ewig in ständiger Angst leben. Ich hatte genug von allen und vorallem wollte ich endlich meine Ruhe von meinen Verfolgern haben.
Vielleicht sollte ich mich ihm ans Messer liefern...Doch irgendetwas hielt mich davon ab, Selbstmord zu begehen.
Zum grössten Teil sollte der Tod meines Bruders und meines Vaters nicht umsonst gewesen sein, doch zusätzlich hielt mich noch etwas ab. Ich wusste nicht genau was, doch mein Herz schrie förmlich danach, weiter zu kämpfen.
So drehte ich mich um und holte im Küchenbereich ein feuchtes Tuch. Damit schrubbte ich den Schriftzug weg.
Danach deckte ich den Tisch fertig und ging in den oberen Stock. Dort hatte ich ein kleines Zimmer mit einer dünnen Matte und Decke.
Ich teilte das Zimmer mit Yaver, doch er hatte mir einen kleinen Teil seines Zimmer überlassen und ihn zusätzlich mit einem Vorhang abgetrennt. Somit hatte ich etwas Privatsphäre und er sah nicht alle meine Sachen. Es wäre sicherlich sehr verwirrend für ihn, wenn er sähe, dass ein Mädchen wie ich die königlichen Zeichen unter der Haut trug und versteckte Waffen besass.
Die Zeichen waren wie das Wahrzeichen unseres Landes eintätoowiert: in Form einer Lotusblüte mit weiterführenden, geschwungenen Wurzeln und Blättern.
Die Tatoos sind über den ganzen Körper verteilt: in der Halskule ist eine kleine Lotusblüte gezeichnet. Auch an den Unterarmen wurden Lotusblüten verewigt. Von ihnen aus gehen feine Wurzeln, die am Handrücken in feinen Punkten enden. Am Anfang sind sie etwas dicker als die gezeichneten Wurzeln, doch am Ende sind sie kaum dicker als eine Nadelspitze.
Auch am Haaransatz bei der Stirn besitzte ich solche Tupfen, die der Grösse nach geordnet sind.
Rasch versteckte ich noch einige weitere Waffen in den Falten meines Gewandes und unter der Matte. Meine Lieblinge, die Dolche, blieben, wo sie waren.
Sie sind mir sehr wichtig, da sie mir meine Mutter im Sterbebett übergeben hatte.
"Der eine steht für Mut und Unnachgiebigkeit, der andere für Treue und Gnade. Alles soll dich in der richtigen Menge durch das Leben begleiten und dir helfen. Nimm sie und denke immer an deine Wurzeln, doch vergiss nicht für die Zukunft zu reagieren", flüsterte meine Mutter in einem ihrer letzten Atemzüge.
Nun waren die Dolche meine steten Begleiter und Helfer. Sie liegen perfekt in der Hand und sind fast schon zu lang, als dass sie Dolche genannt werden können. Doch sie sind immer noch so kurz, dass sie ohne Probleme in Gewändern mitgetragen werden können.
Plötzlich hörte ich ein Klopfen von unten. Sofort schlug mir mein Herz bis zum Hals und ich duckte mich. Dann lauschte ich, wie sich die Tür öffnete.
"Amira, ich bin wieder da!" Erleichtert erkannte ich die Stimme von Yaver. Ich lief die Treppe runter um mit ihm zu essen.
Als wir fertig waren, räumte ich den Tisch ab. Währendessen ging Yaver hoch um noch seine Arbeit zu erledigen.
Ich hatte mir einmal seine Papiere angesehen und herausgefunden, dass er sich nur sehr knapp über Wasser halten konnte, seit ich da war. Ich fühle mich immer schuldig bei diesem Gedanken. Ohne mich könnte er ein gemütliches Leben führen, ohne Sorgen...
Nachdem ich die Küche aufgeräumt hatte, kontrollierte ich nochmals, ob die Türe und die Fensterläden fest verschlossen waren. Seit der Nachricht an der Tür lastete die Angst schwer über mir und ich war ständig angespannt. Mit diesem Gefühl ging ich nach oben und machte mich für die Nacht bereit. Schnell zog ich den Vorhang zu und legte mich hin.
Ich dachte erst an meinen Bruder und hoffte, dass die Götter ihn gütig behandelten. Dann schweiften meine Gedanken zum heutigen Tag. Mir kam der Kronprinz Kian wieder in den Sinn. Ich durchlebte wieder, wie ich den panischen Hengst beruhigt hatte und wie erstaunt der Prinz war. Ich verstand nur nicht, wieso er anschliessend zu Yaver wollte. Mit diesen Gedanken schlief ich ein und verlor mich in unruhigen Träumen...

DU LIEST GERADE
Ihre Augen
Historical FictionAls Prinz Kian von einem verhüllten, magischen Mädchen gerettet wird, will er sie genauer kennenlernen. Es stellt sich heraus, dass das nicht so einfach ist, wie es scheint: Das Mädchen schweigt beharrlich und nur ihre Augen scheinen zu reden. Bald...